Was ist Polyamorie?

Obwohl sie immer wieder in diesem Zusammenhang genannt wird, bezeichnet Polyamorie keine alternative Sexualität, sondern ein alternatives Modell über romantische Beziehungen. Die Adjektive sind polyamor, polyamourös oder (abgekürzt) poly. Sprachlich besteht das Wort aus poly (= altgriech. mehr als eins, viele) und amor (= lat. Liebe). Die zentrale Definition lautet:

  1. Polyamorie ist der Wunsch nach Verliebtheit/romantischer Beziehung/Liebe mit mehr als einem Menschen gleichzeitig,
  2. wobei alle Beteiligten von der gegenseitigen Existenz wissen,
  3. und diese im Konsens leben.

Der Lebensentwurf benötigt von vorneherein mehr Zeit, Energie und emotionale Arbeit als eine geschlossene Liebesbeziehung zu zweit, ganz einfach weil sich mehr als zwei Menschen regelmäßig auf gemeinsame Dinge einigen müssen. Außerdem gibt es in Mehrfachbeziehungen Fragen und Problemstellungen, die zu zweit gar nicht vorkommen, z. B. „Wer liegt in der Mitte?“ oder „Könntest du zwischen uns vermitteln?“.

Da unsere bisherige Sprache für Polyamorie keine Bilder hat, braucht es für diese Art von Beziehung neue Begriffe. Die Vorlage des Mainstreams ist, dass eine Liebesbeziehung aus zwei Menschen besteht: Für Bekannte und Freunde gibt es unbestimmte Mehrzahlworte (etwa Freundeskreis), die Begriffe Zweierbeziehung, Paar und Pärchen weisen hingegen auf die Zahl Zwei hin (ein Paar Schuhe = zwei Schuhe).

Polyamorie braucht hingegen mehr als eine Liebesbeziehung. Um solche zusammenhängenden Beziehungen zu benennen, wurde aus der Chemie das Molekül entlehnt: Aus polyamory und molecule entstand polycule. Dessen deutsche Übersetzung ist analog dazu Polykül.

Sobald mehr als zwei Menschen auf der Ebene Liebe verbunden sind, steigt auch die Komplexität – und zwar mit jedem weiteren Menschen um einen bestimmten Faktor. Der Vergleich mit einem Molekül ist daher nicht nur sprachlich passend: Ebenso wie in der Chemie alles auf die nächste stabile Einheit mit dem geringsten Aufwand zurückfällt, orientieren sich Polyküle an der geringsten Komplexität. Daher bilden sich die häufigsten längerfristig stabilen Polyküle aus der Mindestanzahl von drei Menschen.

Die häufigsten Polykülformen

Nachfolgend stehen die Buchstaben für die beteiligten Menschen und die Linien mit Herz für das Vorhandensein einer Liebesbeziehung.

Polyküle aus drei Menschen

Ein Polykül zu dritt kann in zwei verschiedenen Varianten auftreten, welche nach ihrer sichtbaren Struktur benannt sind.

Eine Triade

Eine Triade oder poly triad bezeichnet ein geschlossenes Dreieck mit den jeweiligen Liebesbeziehungen A+B, B+C, A+C. Ein weiterer Begriff ist throuple, eine Kombination von three (= engl. drei) und couple (= engl. Paar), welcher betont, dass es sich um drei zusammenhängende Paare handelt.

Ich, die Verfasserin dieses Blogs, bin biamor und lebe selbst polyamor: Ich habe eine Lebensgefährtin und einen Lebensgefährten, die beide ebenfalls ein Pärchen sind. Zusammen bilden wir eine romantisch geschlossene Triade (= Wir sind drei Menschen, und wir wünschen uns alle keine weiteren Liebesbeziehungen).

Ein V-Polykül

Ein V oder vee enthält Liebesbeziehungen zwischen A+B, B+C, aber nicht A+C. Für das Verhältnis zwischen Mensch A und Mensch C wurde der Begriff metamour erfunden: über die Meta-Ebene (lateinisch meta = zwischen) eines geliebten Menschen (französisch amour = romantische Liebe, geliebter Mensch) verbundene Menschen. Welche Nähe die Metamours zueinander haben, ist bis auf die Abwesenheit einer romantischen Beziehung nicht definiert und unterscheidet sich im Einzelfall: Das Spektrum reicht von der besten Freundschaft bis zu sich kaum zu kennen.

Polyküle aus vier Menschen

Ein Polykül aus vier Personen wird in der amerikanischen Poly-Szene square, also Quadrat genannt, wobei nicht alle Verbindungen des Quadrats romantische Beziehungen sein müssen, sondern auch Metamours enthalten können. Entscheidend für die Benennung des Polyküls ist die sichtbare Struktur aus den romantischen Beziehungen.

Die häufigste Variante ist das N, bei dem es drei Beziehungen in einer Reihe, sowie drei Metamours gibt.

Ein N-Polykül

Für andere Konstellationen sind mir keine speziellen Begriffe bekannt. Da viele Polyamorie-Interessierte Akademiker_innen sind, hat sich allerdings die Konvention entwickelt, Polyküle wie in wissenschaftlicher Notation mit einem „eckigen“ Buchstaben im lateinischen oder griechischen Alphabet zu benennen.

Formen

Ansonsten gibt es keinen einheitlichen Weg, Polyamorie zu leben, was allerdings nicht heißt, dass alle Arten von Polyamorie funktionieren, also dauerhaft energiegebende, liebevolle Beziehungen hervorbringen. Einige Strategien produzieren sogar nie mehr als parallele Kurzzeitbeziehungen.

Neuere Sichtweisen auf Polyamorie berücksichtigen diese Konsequenz, so definiert etwa der Polyamorie-Forscher Stefan Ossmann genauer:

Polyamorie ist eine konsensuale Beziehung zwischen mehr als zwei Personen, basierend auf emotionaler Liebe und intimen Praktiken über einen längeren Zeitraum hinweg.

Ossmann, Stefan. F. (2020). Introducing the new kind on the block: Polyamory. In Z. Davy, A. C. Santos, C. Bertone, R. Thoreson, S. Wieringa (Eds.), Handbook of Global Sexualities (Vol. 1, pp. 363-385).

Die Poly-Szene – Teil 1/5: Was ist das überhaupt?

Wenn ein Mensch neben einer Liebesbeziehung gleichzeitig noch andere Verbindungen mit Sex pflegt, ist es im Mainstream üblich, diese zusätzlichen Verhältnisse zu verheimlichen. Dagegen steht die Grundregel eines polyamoren Lebensstils: Jede_r Partner_in weiß von allen anderen. Heimlichkeit ist tabu.

Nun gibt es in Österreich die sogenannte Poly-Szene mit regelmäßigen Treffen, Themen-Stammtischen, Veranstaltungen, Facebook-Gruppen, und ein bis zwei Stammlokalen pro Großstadt. Die Szene selbst entstand Anfang der 1990er-Jahre in den USA, und wurde im Laufe der 2010er-Jahre nach Europa importiert. Aus diesem Grund gelangen auch im Jahr 2020 die meisten Ideen und Überzeugungen über Bücher und das Internet aus der US-amerikanischen Szene in europäische Städte.

Hier wie dort ist es dieselbe soziale Schicht, die sich die Poly-Philosophie freudig aneignet: Akademiker_innen in ihren 20ern oder 30ern, mit eigenem Einkommen, die experimentierfreudig sind, und in ihrer „Blase“ bisher wenig Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen erfahren mussten – also hauptsächlich (angehende) Bobos.

Österreich ist weitgehend ländlich und konservativ geprägt, weswegen die Angehörigen dieses Bildungsbürgertums (und jene, die es werden wollen) in das selbstständigere Leben der Städte ausweichen, in die Hauptstadt Wien und nach Graz, die Orte mit den meisten Studierenden. Deswegen hat die Poly-Szene Wiens die meisten Mitglieder – und eine hervorragende Vernetzung mit der Szene in Graz. Da dieselben Menschen ebenso anderen alternativen Subkulturen offen sind, laufen sich Poly-Interessierte in solch verhältnismäßig kleinen Städten bei Veranstaltungen anderer kreativer Subkulturen (Aktivismus linker Parteien, Poetry Slams, queere Szene, Gothic-/Schwarze Szene, Goa-Festivals, BDSM) leicht über den Weg.

Nachdem ich allerdings etwas mehr als ein Jahr meines Lebens (August 2014 – Dezember 2015) fast jedes Wochenende in der Poly-Szene Wiens verbracht habe, unter der Woche bei vielen Aktivitäten mitgemacht, und zum Schluss auch mitorganisiert habe, kann ich als Meinung darüber lediglich weitergeben: Ignoriert diese Szene, wenn euch eure emotionale Gesundheit am Herzen liegt!

Die Poly-Szene präsentiert sich als ein geradezu rebellischer Gegenentwurf zum Mainstream: Die Menschen und die Szene bezeichnen sich als liberal, tolerant, sexpositiv, offen für neue Ideen, und vor allem offen für einen ehrlichen Umgang mit alternativen Formen von Sex und Liebe, welche die meisten Menschen im heteronormativen Mainstream verleugnen, insbesondere den namensgebenden mehrfachen Liebesbeziehungen.

Unter dieser liberalen Oberfläche entpuppte sich jedoch allmählich ein ganz anderes Bild.

Entgegen ihres Kredos hat die Poly-Szene nicht einmal den Furz einer Ahnung, wie eine ernsthafte Liebesbeziehung mit mehr als einem Menschen gleichzeitig gelingen kann. Schlimmer noch, denn die am häufigsten vertretenen Meinungen und Überzeugungen sind destruktive Strategien: Sie wirken in ihrer Umsetzung nicht etwa als Unterstützung für Beziehungen, sondern als Beschleunigung von Beziehungstrennungen, egal ob zu zweit, zu dritt oder zu mehrt. Ich nenne diese Glaubenssätze Herzgespinste, welche in ihrer Gesamtheit die Poly-Ideologie ergeben.

Dazu kommen höchst problematische Gruppendynamiken:

Die Ziele der Veranstaltungen werden auf polyamory.at, einer zentralen Website für die Poly-Szene in Österreich, folgendermaßen erklärt:

Wozu Treffen für Polyamore und Neulinge dienen:

  1. um ähnlich Gesinnte kennenzulernen und sich mit ihnen auszutauschen
  2. um einen polyamoren Freundeskreis aufzubauen
  3. um einander gegenseitig Unterstützung bei Fragen zu Polyamorie bieten zu können, z.B. in Form von Gesprächen.

Wozu die Treffen nicht dienen:
Sie dienen nicht zum Aufriss und nicht zur krampfhaften Beziehungspartner*innen-Suche.

Quelle: Richard und Sky (2019) Polyamory.at – Treffen, Stammtische, Gruppen [Online]. Verfügbar auf http://polyamory.at/in-kontakt-treten/treffenstammtischegruppen (Abgerufen am 29. Oktober 2019).

Aber hier liegt das Problem: Während alle Beteiligten behaupten, dass es auf den Treffen um Austausch, Freundschaft und Unterstützung ginge, und nicht um Aufriss oder krampfhafte Beziehungspartner_innen-Suche, geht es in Wirklichkeit die ganze Zeit um Letzteres. Jetzt kann man sich natürlich fragen, was daran schlimm sei, denn ein Aufriss oder ein_e neue Beziehungspartner_in sind ja etwas Schönes. Das Problem ist nämlich die unbedingte Verheimlichung und Verschleierung dieser Tatsache, wodurch beinahe jede Poly-Veranstaltung zu einem Ort voller unfairer, hinterfotziger und zeitweise sogar übergriffiger Umgangsweisen wird.

Beispiele:

Erkennbar ist das am verbreiteten Slutshaming, das alle Geschlechter gleichermaßen verwenden: Die meisten Menschen in der Szene, die sich als „poly“ identifizieren, grenzen sich bei jeder Gelegenheit scharf von „Swingern“ ab. Dabei muss sich das Gespräch nicht einmal konkret darum drehen – es reicht, wenn jemand über ein cooles erotisches Erlebnis zum Spaß oder nicht ausgelebte sexuelle Wünsche redet, aber mit dem oder den beteiligten Menschen in keiner romantischen Beziehung sein möchte – in einer „sexpositiven“ Subkultur für alternative Formen von Sex und Liebe, eigentlich ein akzeptiertes Gesprächsthema, sollte man meinen.

Das ist es aber offensichtlich nicht. Üblicherweise bringt nämlich prompt ein_e Zuhörer_in den Hinweis, dass es bei Polyamorie (und speziell hier auf diesem Treffen!) nicht um Sex gehen würde, begleitet von zustimmendem Nicken oder sogar empörten Reaktionen der Umstehenden – was erfolgreich das Thema der erzählenden Person abwürgt und sie in den Augen der Gruppe abwertet.

Wer den Fehler macht und über Swingen konkret redet oder Fragen dazu stellt, bekommt die Abwertung ganz offen zu spüren, in Form von allseits bekannten sexnegativen Kommentaren: “Swingerclubs sind eklig”, „Igitt, da gehst du hin?“, „Wäh!“, etc. – natürlich ohne jemals einen besucht zu haben, ganz genau wie Menschen im Mainstream.

Menschen, die sich einfach Sex zum Spaß wünschen, werden damit als minderwertig hingestellt, mit der oft zitierten Begründung, dass es bei Polyamorie nur um Liebe gehen würde.

Jetzt kann man anmerken, dass zwar die Art, wie es kommuniziert wird, wertschätzender laufen könnte – aber Menschen, die nur Sex und keine Beziehung wollen, sind doch in einer Szene, die sich nach mehrfachen Liebesbeziehungen benannt hat, wirklich falsch, oder?

Nicht wirklich.

Im Laufe jeder Poly-Veranstaltung baggern die meisten der Hetero-Männer nämlich alle anwesenden Frauen der Reihe nach an, und immer wieder auch erfolgreich, sodass fremde Menschen am Ende des Abends mit ihrem Aufriss „zu mir oder zu dir“ gehen. Und nein, daraus entsteht in den meisten Fällen keine neue Beziehung. Während die Beteiligten also genau das machen, was unter Swingern offen und ehrlich passiert und positiv bewertet wird, wird dasselbe Verhalten in der Poly-Szene nicht nur negativ bewertet, sondern sogar aktiv abgestritten, während es unter aller Augen passiert.

Lustigerweise bleiben dabei, trotz der Ausrichtung auf Polyamorie, mehr als zwei Menschen die Ausnahme: Innerhalb eines Jahres habe ich jeden Abend mehrere Aufrisse zwischen einer einzelnen Frau und einem einzelnen Mann mitbekommen, zwei Mal zwei Frauen, ein Mal zwei Männer (obwohl sich ca. ein Drittel der Männer in der Szene als bisexuell beschreiben), sowie drei Mal mehrere Menschen. Obwohl ich natürlich nicht an allen Abenden anwesend war, und nicht jede_n gesehen habe, zeigt bereits dieser Schnitt einer liberalen Subkultur nur wenig Unterschied zum Fortgehen im heteronormativen Mainstream.

Die wenigen, die tatsächlich Gleichgesinnte zum Austausch suchen, ohne hintenrum ein anderes Ziel zu verfolgen, finden sich jedoch nicht gegenseitig, sondern werden ebenfalls enttäuscht:

Die Mehrheit der Menschen, die regelmäßig die Poly-Szene frequentieren, lästert über den Lebensentwurf der Monogamie und den Mainstream im Allgemeinen, was als gemeinsamer Feind verschiedenste Menschen miteinander ins Gespräch bringt. Meistens geht es um vergangene gescheiterte Beziehungen, und nicht ausgelebte Wünsche nach Sex und/oder Verliebtheit mit anderen Menschen. Durch die wechselseitigen Erzählungen von ähnlichen Problemen und Erfahrungen fühlen sich die Gesprächsteilnehmer_innen wahrgenommen und akzeptiert, im Gegensatz zu ihren „monogamen Freunden“, die auf diese Themen immer negativ reagiert haben.

Die „Lösung“ für diese Probleme ist dann – da sind sich alle einig – jetzt „poly“ zu sein, oder dass jemand in Wirklichkeit „immer schon poly war“. Die letztere Begründung erklärt alle Probleme einer unglücklichen Beziehung mit einer grundsätzlichen Inkompatibilität mit einer „Mono“-Person, womit die erzählende Person jede Verantwortung für eventuelles oder eindeutiges Fehlverhalten (wie eine heimliche Affäre) ablehnen kann. Die zahlreichen „Ich bin poly“ und „Wir gegen die Monogamisten“-Deklarationen erzeugen so das schöne Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, ja sogar, nach den Fehlgriffen im Mainstream endlich eine passende Gemeinschaft gefunden zu haben.

Was „Ich bin poly“ allerdings konkret bedeuten soll, bleibt bis auf die grobe Beschreibung, für mehrere Verbindungen mit Sex gleichzeitig offen zu sein, in allen Gesprächen vage. Der Grund: Fast jede Person meint damit etwas Anderes als ihr Gegenüber.

Der Blogger Oligotropos hat diese Verwirrung in seiner lokalen Poly-Szene in Deutschland ebenfalls beobachtet, und meiner Meinung nach treffend beschrieben:

  • So gab es dort etwa Liebende, die wie in einer geschlossenen Ehe zu Mehreren lebten.
  • Etliche Menschen sahen sich hingegen als Teile weitverzweigter und offener Beziehungsnetzwerke an.
  • Einige wiederum lebten jedoch nahezu ausschließlich allein und verbanden sich mit jeweils ausgewählten Partner*innen nur auf Festivals, Seminaren oder an besonders gestalteten Wochenenden. Teilweise wurde dazu die unbedingte Deckungsgleichheit mit freier oder universeller Liebe postuliert.
  • Andere Polyamoristen schienen indessen etwas zu leben, was Swingen nicht unähnlich war,
  • und eine Anzahl führte sogar serielle oder parallele Affären im Namen der Viel-Liebe,
  • und überhaupt schien die Betonung persönlicher sexueller Aspekte und Freiheiten vielerorts im Vordergrund zu stehen.

Aber dem ungeachtet nannten sich alle stolz Praktizierende der Lebensweise „Polyamory“ – und behaupteten dies besonders vehement und laut in Abgrenzung zu ihren nächsten Nachbarn, die mit entsprechender Leidenschaftlichkeit exakt das Gleiche wiederum für sich in Anspruch nahmen… Die überall hervortretenden Meinungsverschiedenheiten schienen dadurch die verheißenen Merkmale von Transparenz, Verantwortung und Verbindlichkeit […] auf jederzeit verhandelbare Fußnoten zu reduzieren.

Daran ist erkennbar, dass Menschen in der Poly-Szene keine eindeutige Definition von Polyamorie verwenden.

Nun kann man fragen, was daran das Problem sei, denn wie viele alternative Begriffe kann Polyamorie als ein Überbegriff (engl. umbrella term) verwendet werden, um aus verschiedenen Lebensweisen über gemeinsame Anliegen eine Gemeinschaft zu formen, die sich ohne ein solches gemeinsames Wort nur schwer als eine soziale Gruppe verstanden und einen Teamgeist hervorgebracht hätten.

Damit die positiven Effekte eines Überbegriffs auch tatsächlich passieren, müssen jedoch drei Schritte durchlaufen werden:

  1. Alle Beteiligten müssen wissen, inwiefern sich ihre Definition vom Gegenüber unterscheidet.
  2. Es muss eine offene Diskussion über verschiedene Formen geben. Aus dieser Diskussion können die Beteiligten dann
  3. gemeinsame Ziele formulieren, welche wiederum einen Teamgeist ausbilden, der eine Gemeinschaft mit Zusammengehörigkeitsgefühl und gegenseitiger Hilfsbereitschaft herstellt.

Doch bereits der erste notwendige Schritt passiert in der Poly-Szene überhaupt nicht. Die meisten Menschen nehmen einfach an, dass ihre Gegenüber das gleiche Verständnis von Polyamorie wie sie selbst haben, sodass kaum jemand über vorhandene Bedeutungsunterschiede redet – die meisten in der Szene wissen nicht einmal, dass sie existieren. Dadurch werden Interessent_innen und Anhänger_innen der Poly-Philosophie im Unklaren über ihre eigene Identität gelassen. Mit der entstehenden Verwirrung lassen sich dann alle möglichen Glaubenssätze begründen oder zumindest nicht widerlegen – es ist ja nie klar, von welchem Wunsch genau die Rede ist.

Beispiele:

Wenn sich ein zusammenstehendes Grüppchen angeregt über Erfahrungen im Mainstream unterhält, ist nie ersichtlich, ob jemand mit monogam “Sex mit ausschließlich einem Menschen” oder “eine Liebesbeziehung mit ausschließlich einem Menschen” meint. Dass eine solche Unklarheit ein Problem produziert, ist bisweilen an geradezu absurden Aussagen erkennbar: So wurden wir zu dritt, als sehr sichtbare polyamore Triade, bereits von drei “Polys” (unabhängig voneinander) naserümpfend als “monogam” bezeichnet, als wir erklärten, dass keine_r von uns weitere romantische Verbindungen eingehen möchte.

Der zweite Schritt, also eine offene Diskussion über Polyamorie, ist dadurch von Anfang an blockiert. Wer dennoch versucht, durch Nachfragen im Gespräch Unklarheiten herauszufinden und eine Diskussion anzustoßen, wird ebenfalls abgewürgt: Als Reaktion auf „Was meinst du damit?“ oder „Was genau verstehst du darunter?“ erhält ein austauschwilliger Mensch nur überforderte Gesichtsausdrücke und fallweise sogar verärgerte Reaktionen – egal ob es um monogame oder polyamore Themen geht. Hineinfragen wird nämlich als Gesprächsstörung empfunden, weil es aufdeckt, dass es gar nicht so viel Gemeinschaft gibt, wie alle Beteiligten glauben möchten.

Aufgrund von unvereinbaren Wünschen und Zielen – und deren Verschleierung – ist das Gemeinschaftsgefühl der Poly-Szene in den meisten Fällen nämlich nur Oberfläche. Wer die tatsächlichen Leistungen einer Gemeinschaft wie Unterstützung für eine strauchelnde Beziehung oder ein ernsthaftes Gespräch unter Freund_innen sucht, trifft beim vorher ach so sympathischen Gegenüber schnell auf Desinteresse und Ablehnung – die betreffende Person hatte wahrscheinlich die ganze Zeit ein anderes Interesse, was durch die undifferenzierte, zu inklusive Sprache jedoch lang genug verborgen bleiben konnte.

Oligotropos kommt zum selben Schluss:

Was mir aber besonders deutlich wurde war das Dilemma, daß der bloße Begriff der Polyamorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts von den Nutzer*innen nicht mehr konsistent verwendet wurde – und also auch nicht mehr in der Kommunikation zum Zusammenfinden Gleichgesinnter und zur Gemeinschaftsbildung taugte.

Quelle: Oligotropos (2019) Eintrag 1 [Online]. Verfügbar auf http://www.oligoamory.org/2019/03/09/blog (Abgerufen am 29. Oktober 2019).

Die Poly-Szene – Teil 2/5: Die polyamore Lüge

Fast alle Menschen im Mainstream fördern die monogame Lüge. Der wichtigste Punkt dabei ist, dass Sex und Liebe nur in einer geschlossenen Paarbeziehung stattfinden sollen. Hat sich dort ein Pärchen gefunden, ist deren romantische Beziehung automatisch sexuell und romantisch geschlossen. Das heißt ebenso automatisch „Stopp“ für weitere Interessenten an einer Person dieses Pärchens, sexuell und romantisch.

Die Poly-Szene ist jedoch aus einer Rebellion gegen den Mainstream hervorgegangen. Absolut alle Rebellionen beginnen mit einer bestimmten Psychodynamik: Wenn der konforme Mainstream nach rechts geht, geht die rebellische Subkultur unter allen Umständen nach links. Wenn also der Mainstream ständig sinnlos erscheinende Grenzen gegen die meisten Formen von Sex und Liebe aufrechterhält, und nur einen winzigen Ausschnitt akzeptabel findet, ist die Strategie der Subkultur daher das exakte Gegenteil: Alle Grenzen weg! Freie Liebe! Nie mehr Schule…äh…Unterdrückung! etc.

Deswegen lehnt die Poly-Szene nicht nur die problematischen, sondern überhaupt alle Überzeugungen und Ideen ab, die ihren Ursprung im heteronormativen Mainstream haben.

Nun ist ein Teil schon richtig: Es gibt beim Thema Sex und Liebe sehr wohl viele sinnlose Grenzen. Beispiele für solche sinnlosen Grenzen sind:

  • viele sexuelle Fantasien und Spielarten als „kein Sex“ oder „kein richtiger Sex“ zu sehen,
  • dass ausschließlich eine Frau, ein Mann sowie deren Kinder eine „Familie“ oder „eine richtige Familie“ sind,
  • Homosexualität abzulehnen, was erst seit kurzem und nur in wenigen Teilen der Welt von der Mehrheit der Bevölkerung als sinnlose Grenze erkannt wird.

Im Eifer des Gefechts hat die Poly-Szene wie fast jede rebellische Subkultur jedoch übersehen, dass nicht alle Grenzen sinnlos oder Schikane sind. Am Ende der Hinterfragung von Grenzen bleiben immer noch einige sinnvolle Grenzen und Regeln übrig, die für einen gesunden Umgang miteinander zwingend notwendig sind. Das wichtigste Beispiel dafür sind Verhaltensregeln zur Herstellung von Konsens und Fairness, zum Zweck der Vermeidung von Übergriffen und Gewalt.

Genauso verhält es sich mit romantischen Beziehungen:

Die automatische Einführung von sexuell geschlossen für eine Beziehung im Mainstream ist eine sinnlose Grenze, die tatsächlich immer und egal wo ein Problem macht, indem sie die Ebene Lust unterdrückt, was die Lügenkonstrukte des Patriarchats hervorbringt.

Die automatische Einführung von romantisch geschlossen ist hingegen eine sinnvolle Grenze, da ein frisches Pärchen auf der Ebene Liebe nur so die Zeit, Energie und emotionale Sicherheit zur Verfügung hat, um gegenseitiges Vertrauen und ein gemeinsames Leben aufzubauen und aufrechtzuerhalten, was eine liebevolle, energiegebende, also gesunde, Paarbeziehung überhaupt erst möglich macht.

Aus diesem Logikfehler hat sich innerhalb der Poly-Szene ein komplett neues Lügenkonstrukt entwickelt: Ich nenne es die polyamore Lüge. Es ist eine Abwandlung der monogamen Lüge – was, verglichen mit der Vehemenz, mit der sich regelmäßige Besucher_innen von Poly-Veranstaltungen von „der Monogamie“ abgrenzen, eine interessante Verwandschaft darstellt.

Zum Vergleich:

Die monogame Lüge behauptet:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
  2. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
  3. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
  4. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, sich in jemand Anderen zu verlieben.

Die polyamore Lüge teilt nun die ersten zwei Punkte mit der monogamen Lüge als gemeinsame Lügen. Lediglich ihr dritter Punkt ist eine neue Erfindung.

Die polyamore Lüge behauptet:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
  2. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
  3. Wenn sich jemand innerhalb einer Liebesbeziehung in einen neuen Menschen verliebt, muss daraus zwingend eine neue, zusätzliche Liebesbeziehung entstehen. Der Mensch in der Ursprungsbeziehung hat diese Entwicklung unter allen Umständen gutzuheißen und zu fördern.

Die Anwendung der polyamoren Lüge in einer Liebesbeziehung sieht nun folgendermaßen aus:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.

Ein Mensch in der Liebesbeziehung findet andere Menschen geil und würde mit diesen gerne sexuelle Erlebnisse anstreben.

  1. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.

Dieser Mensch verschwurbelt nun – meistens unbewusst (!) – aufgrund der gemeinsamen Lügen sein eigenes Bedürfnis:

Um Sex allein kann es nicht gehen. Denn einen sexuellen Wunsch zu haben bedeutet ja, automatisch auch einen romantischen Nähewunsch auszudrücken. Außerdem nervt die ständige Notwendigkeit zur Verheimlichung. Warum können wir nicht „einfach so“ … ?

Damit beginnt der Mensch, der andere Menschen außerhalb der Liebesbeziehung sexuell begehrt, sich in einen neuen Menschen, den er_sie gerade geil findet, zu verlieben.

Die Begründung dieser Lüge ist dabei kreativer als im heteronormativen Mainstream: Sex zum Spaß (= Swingen) ist nicht einfach nur „grauslig“, sondern „emotional kalt“ oder „mechanisch“. Nur Sex mit Küssen und Kuscheln, also Nähehandlungen wie in einer Liebesbeziehung, wäre „wirklich“ erfüllend.

Mit der dritten Lüge unterscheidet sich die polyamore Lüge von der monogamen Lüge.

Monogame Lüge:

  1. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
  2. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, sich in jemand Anderen zu verlieben.

Diese Lügen wurden dekonstruiert: Es ist nämlich nicht nur in einer kriselnden, sondern auch in einer schönen, gesunden Liebesbeziehung sehr wohl möglich:

  • jemand Anderes geil zu finden (was jeder Mensch, der_die Pornos oder Sexszenen schaut, oder Erotika liest, auch ständig tut),
  • oder sich in jemand Anderes zu verlieben.

Diese Gefühle haben nichts mit der Existenzberechtigung der bestehenden Liebesbeziehung zu tun – sie zeigen einfach an, dass ein weiterer für das Bedürfnis (möglicherweise!) kompatibler Mensch vorhanden ist – genau wie wenn der betroffene Mensch Single wäre.

Anstatt mit einem funktionierenden Konstrukt wurden diese Lügen allerdings durch eine neue Lüge ersetzt:

Polyamore Lüge:

  1. Wenn sich jemand innerhalb einer Liebesbeziehung in einen neuen Menschen verliebt, muss daraus zwingend eine neue, zusätzliche Liebesbeziehung entstehen. Der Mensch in der Ursprungsbeziehung hat diese Entwicklung unter allen Umständen gutzuheißen und zu fördern.

Die Grundstimmung ist also im Gegensatz zum Mainstream romantisch offen: Alles ist möglich; Beziehungsgeflechte können mit jeder neuen Verliebtheit um einen neuen Menschen erweitert werden. Manche definieren als Grenze für die Anzahl der Beziehungspartner_innen wieviele sie in der eigenen Freizeit unterbringen können, während andere nach dem Motto je mehr, je besser zusätzliche Beziehungen eingehen.

Ein weiterer Ausdruck sind die sogenannten Kuschelhaufen: Mehrere Menschen, die sich spontan kennengelernt haben, legen sich auf die auf Poly-Veranstaltungen obligatorische weiche Unterlage – üblicherweise ein großer Teppich oder eine Matratze, und beginnen, Nähehandlungen auszutauschen. Die beteiligten Menschen legen sich mit Körperkontakt nebeneinander oder in Löffelchenstellung, und streicheln, umarmen, kuscheln, und küssen sich. Nach kurzer Zeit versinken alle in einem Schnurrzustand. Ab und zu wird rotiert, damit jede_r im Kuschelhaufen einmal mit allen gekuschelt hat. Das kann stundenlang so gehen, denn nicht selten schlafen dabei alle aufeinander ein. Oft kommen auch noch neue Menschen nach, und legen sich dann auf die vorhandenen.

Alle diese Handlungen (inklusive aufeinander gekuschelt einzuschlafen), vermitteln auf einer unbewussten Ebene die größte Nähe, die zwischen Menschen möglich ist – die einer Liebesbeziehung. Wie gesagt, diese Menschen haben sich aber gerade erst kennengelernt. Bewusst sind sich alle also nahezu fremd, unbewusst wird die größtmögliche Nähe kommuniziert. Dieser Widerspruch macht sich allerdings nicht sofort bemerkbar. Alle Beteiligten beschreiben in und direkt nach einem Kuschelhaufen einen Glückszustand – wie ich selbst erlebt habe, folgt einige Stunden später jedoch ein massiver emotionaler Kater mit Symptomen einer Depression. Dagegen hilft natürlich der nächste Schuss…äh…Kuschelhaufen. Und tatsächlich beschreiben Menschen, die MDMA genommen haben, einen ähnlichen Gefühlsverlauf. Die Menschen, die regelmäßig in Kuschelhaufen liegen, haben so ein erhöhtes Risiko, ein Suchtverhalten zu entwickeln, auf das oftmals weitere psychische Probleme folgen.

Die Poly-Szene – Teil 3/5: Rape Culture innerhalb der Szene

Die Unterdrückung und Abwertung der Ebene Lust an sich (Ablehnung von Swinger_innen, die gemeinsamen Punkte der monogamen und polyamoren Lüge) trifft also auf eine weit offene Ebene Liebe (romantisch offenes Sozialverhalten, Kuschelhaufen). Die Ebene Lust kann also wieder einmal nur durch die Öffnung der Ebene Liebe freigeschalten werden. Das setzt die Einzementierung der patriarchalen Lüge in Gang und produziert in weiterer Folge eine eigene Rape Culture (!).

Hinter ihren Glaubenssätzen läuft die Poly-Szene nämlich folgendermaßen:

Menschen in der Rolle „Frau“, vorrangig Frauen, aber auch Männer und weitere Geschlechter, betreten die Szene, da sie von den Behauptungen über die Ebene Liebe mit mehr als einem Menschen angezogen werden.

Dort warten allerdings schon Menschen in der Rolle „Mann“, vorrangig Männer, die diesen im Vergleich zum Mainstream noch verstärkten Glauben an die Ebene Liebe von Menschen in der Rolle „Frau“ ausnutzen. Das Spielchen ist ein Klassiker des Patriarchats: Der Mann täuscht nicht vorhandene Zuneigung vor, und bekommt dafür von der Frau Aufmerksamkeit und Sex. Er hatte jedoch nie vor, dabei auf die Bedürfnisse der Frau Rücksicht zu nehmen. Hauptsache, er „hatte“ sie, und kann sich jetzt unter seinesgleichen gut vorkommen.

Ein Pärchen oder Polykül besucht also gemeinsam eine Poly-Veranstaltung. Nun gehen alle Anwesenden davon aus, dass alle Beteiligten romantisch offen und außerdem jetzt gerade auf der Suche sind.

Diverse Veranstaltungen der Poly-Szene werben damit, eine Anlaufstelle für Neulinge beim Thema Polyamorie zu sein. Da die allermeisten Paare im Mainstream geschlossen sind, sind das üblicherweise auch diejenigen, die sich eine Poly-Veranstaltung „mal anschauen kommen“. Davon abgesehen gibt es aber auch viele Poly-Konstellationen, die einseitig oder ganz geschlossen sind. Niemand denkt daran, dass ein Pärchen oder Polykül nur unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Handlungen offen sein könnte.

Diese Situation könnte einfach, schnell und fair geklärt werden, und zwar indem ein interessierter Mensch erst mal nachfragt, bevor er, sie oder sier jemanden anbaggert.

Aber das passiert aufgrund der obigen Annahme natürlich nicht. Ist ein Mensch an einem_r der Neuankömmlinge interessiert, fängt er_sie sofort an, die gewünschte Person anzuflirten. Die Beziehung(en) dieser Person werden dabei bestenfalls ignoriert, üblicherweise jedoch durch Mikroaggressionen und Manöver auf die Seite geschoben.

Beispiele:

Mensch A und Mensch B sind als Paar in die Szene gekommen. Mensch C interessiert sich für Mensch B, und beginnt mit diesem ein Gespräch. Dabei begrüßt Mensch C das Flirtziel Mensch B überschwänglich, ignoriert jedoch dessen Partner_in Mensch A, indem er_sie Mensch A gar nicht erst begrüßt, oder zwar begrüßt, aber dann im Gespräch nicht mehr ansieht oder anspricht. Wenn Mensch A trotzdem am Gespräch teilzunehmen versucht, wird er_sie meistens mitten im Satz unterbrochen – von Mensch C oder Zuhörer_innen.

Nach einigen Minuten Gespräch beginnen dann die typischen Manöver: Mensch C stellt oder setzt sich so, dass kein Sichtkontakt zwischen Mensch A und Mensch B mehr möglich ist. Wenn Mensch A auf der Suche nach einem Getränk oder einem besseren Gespräch weggeht, steht Mensch C auf dessen Platz. Mensch C geht auch dann nicht mehr weg, sobald Mensch A zurückkommt. Meistens bekommt Mensch B diese Blockade nicht mit, da ja der Sichtkontakt unterbrochen wurde. Dabei können die Verhaltenweisen von Mensch C vom selben Menschen, aber auch von mehreren Personen ausgehen, die alle gleichzeitig oder abwechselnd Mensch B anflirten.

Wenig überraschend ist Mensch B meistens eine hübsche, junge Frau, Mensch A ihre mitgebrachte Hetero-Beziehung, und Mensch C ein oder mehrere Männer, die sich ein Stück vom Kuchen holen wollen.

Queer?

Seltener sind Mensch A und Mensch B aber auch ein lesbisches Paar, und Mensch C ein oder mehrere Männer. In diesem Fall flirten mehrere Männer jede Frau an, und drängen die beiden Frauen mit denselben Manövern auseinander. Dadurch werden aus einem Paar zwei separate Aufrissgelegenheiten. Ich vermute, dass diese heteronormative Zwangsbeglückung ein maßgeblicher Auslöser für die Abspaltung von eigenen queeren FLINT-Poly-Treffen war, wo Hetero-Männer keinen Zutritt haben.

Ein (sichtbares) schwules Paar habe ich in der Poly-Szene hingegen nie getroffen. Ich vermute, dass Männer, die um Frauen aggressiv konkurrieren, so handeln, um ihre „Männlichkeit“ (= Heterosexualität und Dominanz) zu beweisen. Schwules Begehren passt nicht in dieses Bild, weshalb solche Männer Schwulen mit Ablehnung begegnen. Schwule Männer fühlen sich dann auf Poly-Veranstaltungen zu recht unwohl, und gehen lieber woanders fort. Dazu trägt bei, dass die schwule Szene die älteste unter den alternativen Szenen ist, und daher bereits genug Möglichkeiten bietet.

All dies führt dazu, dass – obwohl die Poly-Szene ständig über mehrfache Beziehungsanbahnung redet – keine Polyküle und nur wenige Paare auf Poly-Treffen zu finden sind. Verständlicherweise will sich kaum ein Paar oder Beziehungsgeflecht dieser sozialen Situation (öfter) aussetzen.

Verstärkt sich diese Dynamik noch mehr, ergeben sich übergriffige Menschen in der Rolle „Mann“, die Menschen in der Rolle „Frau“ ganz grundsätzlich als Sexualobjekte ohne eigenen Willen ansprechen. Diese versuchen dann durch diverse Spielchen, den Konsens des Gegenübers zu umgehen. Leider sind solche Manöver selten direkt zu beobachten.sondern passieren eher als latente Übergriffigkeit:

Konsens? Bla!

Im Fall von mehreren interessierten Menschen, meistens Männern, umstellen diese die Frau oftmals so, dass sie keine großartige Möglichkeit hat, Berührungen auszuweichen. Wenn sie weggehen möchte, muss sie wiederholt einfordern, aus dem Kreis gelassen zu werden, damit mal jemand Platz macht. Ich sage bewusst fordern, denn nur eine lautstarke, ärgerliche Ansage schafft Platz. Bei höflichen Bitten oder Ankündigungen („Ich hol‘ mir was zu trinken!“) rühren sich die betreffenden Männer keinen Millimeter.

Genauso läuft es bei Berührungen ab: Eine Frau, die höflich mitteilt, wie oder wo sie nicht berührt werden möchte, oder dass sie an jemandem nicht interessiert ist, kann als Reaktion nicht nur mit einem extrem beleidigten Mann rechnen, sondern dass derselbe Mann die gleiche Berührung / das gleiche Manöver entweder etwas später am Abend, oder einfach bei der nächsten Poly-Veranstaltung wieder macht, als hätte sie nie etwas gesagt.

Dieselben Männer blockieren auch gerne Durchgänge, um Frauen abzupassen, und so ins Gespräch zu kommen. Manche lauern ständig an Engpässen am Weg zur Bar oder zur Toilette. Andere stellen sich sogar extra in den Weg, sobald sie sehen, dass eine angepeilte Frau in ihre Richtung geht. Die Frau muss sich dann entweder vorbeiquetschen, oder ebenfalls wieder lautstark und ärgerlich Durchgang verlangen. Kurz bevor ich die Szene verließ, hatte ich sogar begonnen, meinen Schritt extra zu beschleunigen. Ich nahm dabei absichtlich in Kauf, den betreffenden Mann umzurennen, was sofort Wirkung zeigte, denn jeder Abpasser sprang mir aus dem Weg.

Diese Umgangsformen habe ich selbst erlebt und bei Anderen auf beinahe jeder Poly-Veranstaltung beobachtet. Sie sind eine klare Umgehung der Konsenskultur und damit eine Form von Rape Culture.

Ständige romantische Offenheit begünstigt also Übergriffigkeiten. Warum also fordert die Poly-Szene so unbedingt romantische Offenheit?

Wie ich feststellen musste, liegt die Antwort bereits in der Frage: Weil junge, tolerante Frauen in der Rolle „Frau“ dadurch für Arschlöcher in der Rolle „Mann“ reihenweise als leichte Beute für Aufmerksamkeit und Sex ohne Gegenleistung bereitstehen. Einen anderen Grund hat die Forderung tatsächlich nicht!

In der Realität kann keine Liebesbeziehung, weder eine einzelne, und schon gar nicht mehrere gleichzeitig (und ich weiß das aus Erfahrung!), schön und energiegebend bleiben, wenn sie romantisch offen bleibt. Wie soll da Vertrauen, gemeinsamer Alltag, ja Liebe entstehen, wenn der bestehende Platz für tiefe Nähe jederzeit massiv reduziert werden kann? Jede neue, angehängte Beziehung reduziert automatisch die Ressourcen, welche die Nähe des Ursprungspaares oder -polyküls aufrecht erhalten. Die Nähe wird daher mit jedem zusätzlichen Menschen weniger, und irgendwann bleiben frustrierte Beziehungen übrig, die hauptsächlich energiefressende Dynamiken produzieren.

Die Einforderung einer dauerhaften romantischen Offenheit sorgt dabei dafür, dass:

  • möglichst viele Frauen gleichzeitig romantisch „verfügbar“ sind,
  • Beziehung(en) schnell energiefressend werden, wodurch die betroffenen Frauen unglücklich und einfach zu manipulieren sind,
  • Frauen durch ständig schiefgehende Beziehungen immer wieder in die Poly-Szene zurückkommen, um für die nächsten Trophäensammler verfügbar zu sein.

Diese Tatsache wird durch mehrere Glaubenssätze verschleiert, welche ich Herzgespinste nenne, und in einer eigenen Artikelreihe genauer durchleuchte.

Die Poly-Szene – Teil 4/5: Was ist Lovebombing? oder: Verlasst die Poly-Szene!

Ein Mensch ist innerhalb einer Gruppe (Berufsgemeinschaft, Bekanntenkreis, Freundeskreis, Gesellschaft) nicht nur steuerbar, indem alle unerwünschten Verhaltensweisen „bestraft“ werden, bis derjenige Mensch diese unterlässt. Die zweite genauso erfolgreiche Methode ist Lovebombing: Alle erwünschten Verhaltensweisen eines Menschen mit übertriebener Zuneigung und übertrieben positiver Aufmerksamkeit zu „belohnen“. Diese Formen der Zuneigung sind dabei sekundärmotiviert: Das Interesse der ausführenden Menschen ist keine gemeinsame Freundschaft oder gar Liebesbeziehung, was die Zuneigung vermittelt, sondern eine Steuerung und Manipulation des angepeilten Menschen.

Jener Mensch fühlt sich dadurch von der Gruppe aufgehoben und in besonderer Weise angenommen. Über diesen Weg können aber Verhaltensweisen eingeschleust werden, die nur bestimmten Menschen in der Gruppe nützen und dem angepeilten Menschen nichts nützen oder sogar schaden. Wenn nun dieser Mensch eigene Impulse ausleben will, die der Gruppenphilosophie widersprechen, oder ganz einfach Handlungen macht, die für die Ziele der Gruppe nicht ausnutzbar sind, wird die positive Zuwendung als Druckmittel benutzt:

„Wir haben uns alle so lieb. Du uns doch auch, oder?!“

Widerspricht der Mensch den geforderten Verhaltensweisen weiter, wird er_sie ab einem Punkt komplett fallengelassen und es werden absolut alle Formen von positiver Zuwendung – auch die, die nicht manipulativ sind – entzogen. Im Extremfall wird der Mensch dann sogar zum „Feind“ der Gruppe erklärt – eine typische Dynamik von konservativen Religionen und religiösen Sekten.

Hier ist anzumerken, dass Lovebombing innerhalb einer Gruppe meist ein unbewusstes Verhaltensmuster ist. Nur Menschen, die bereits ein fundiertes Wissen in derartigen Psychodynamiken haben, können einen solchen Gruppendruck bewusst und absichtlich erzeugen – welcher freilich nur umgesetzt werden kann, wenn es genug Mitläufer_innen gibt, die so einen „Führer“ unkritisiert walten lassen.

Mein eigenes polyamores Beziehungsleben wurde erst ab dem Zeitpunkt dauerhaft energiegebend und schön, als wir eine romantisch geschlossene Triade wurden und mit dieser Entscheidung gemeinsam aus der polyamoren Lüge und ihren energiefressenden Dynamiken ausstiegen.

Als ich die Neuigkeit meinen (angeblichen) Freundschaften und (angeblichen) guten Bekanntschaften auf Poly-Veranstaltungen mitteilte, schlug die Stimmung von einer Sekunde auf die andere um: Viele Menschen starrten mich feindselig an, einige zeigten sogar mit dem Finger auf meine Freundin, meinen Freund, und mich, um dann angewidert zu schauen und zu tuscheln. Menschen, die mich zuvor bei jedem Treffen freudig begrüßt hatten, schnitten mich plötzlich, oder gingen mir gleich aus dem Weg.

Teilweise wurden wir sogar offen angefeindet: Menschen versuchten uns in Triaden- oder in Pärchenformation aktiv auseinander zu bringen, um damit wieder die ursprüngliche romantische Offenheit, also unsere Verfügbarkeit für romantische Annäherungen, herzustellen. Dies geschah durch Aufforderung, nicht beieinander zu sitzen, nicht so viel „Pärchen-Getue“ zu zeigen (weil das „triggern“ würde – ja, sicher…), während dieselben Menschen ähnliches Pärchenverhalten bei anderen Menschen nie als Problem gesehen oder sogar „süß“ gefunden hatten.

Meine Freundin und ich bekamen eine Sonderbehandlung von sich als Traumprinzen gerierenden Männern: Sobald unser Freund sich auch nur wenige Meter von uns entfernt hatte, stand sofort einer dieser Männer zwischen uns, in einer Geschwindigkeit, dass er wohl gerannt sein musste. Ein Mann, mit dem ich zuvor in einigen Kuschelhaufen gelegen war, wartete, bis Nemo Getränke holen ging, und schlich sich dann an mich heran, um mich plötzlich von hinten zu umarmen (was er noch nie zuvor getan hatte), offensichtlich als eine „Das ist meins“-Geste an meinen Freund.

Mein Freund wurde von Männern in der Poly-Szene besonders offen angefeindet – nicht nur durch das übliche Wegdrängen, sondern auch durch abwertende Bemerkungen. Offenbar wurde er als der alleinige Grund wahrgenommen, dass ich nicht mehr romantisch ansprechbar war und daher nicht mehr an „Kuschelhaufen“ teilnahm. Dass meine Freundin oder ich uns genauso bewusst für unsere Konstellation und romantisch geschlossene Ausrichtung entschieden haben – was wir immer wieder betonten – das war ganz offensichtlich uninteressant. Der Gedankengang wird aufgrund der (großteils) unbewussten Frauenverachtung wohl gewesen sein:

„Das sind zwei hübsche Frauen, und auch noch bisexuell. Wieso reden die so viel, anstatt *mich* toll zu finden?“

Im Laufe meines Jahres in der Poly-Szene waren einige regelmäßige Veranstaltungen und private Zusammenkünfte zusammengekommen, zu denen ich immer eingeladen war, und wo sich Leute im Vorfeld erkundigten, „ob ich eh wieder dabei sei“. Als ich meine Freundin und meinen Freund als meine „plus 2“-Begleitungen mitbringen wollte, und diesbezüglich nachfragte, waren sie nicht eingeladen. Ich erhielt jedoch die Rückmeldung, dass ich alleine gerne kommen könne, zu, richtig, einer Veranstaltung einer Szene über mehrfache Liebesbeziehungen. Von anderen Veranstaltungen erfuhr ich plötzlich keine neuen Termine mehr, weil, wie ich später herausfand, die Gastgeber beschlossen hatten, dass ich „nicht dazupassen würde“.

Aufgrund dieser Erfahrungen zogen wir uns von Poly-Veranstaltungen zur Unterhaltung zurück, und besuchten nur noch eine Selbsterfahrungsgruppe für Polyamorie, an der wir bereits vor unserem Kennenlernen teilgenommen hatten. Doch kurz nachdem wir als Triade auftraten, hatte die Gruppe mit freier Platzwahl plötzlich ein Kartenziehsystem, um Menschen Plätze zuzuteilen. „Damit nicht immer dieselben nebeneinander sitzen“, bemerkte der Leiter mit einem Seitenblick auf uns, der bisher mit den immer nebeneinander sitzenden Paaren nie ein Problem gehabt hatte.

Einige (angebliche) Freunde versuchten mich im Gespräch zu überzeugen, dass mich meine neue geschlossene Beziehungsstruktur in meiner „Freiheit“ einschränken würde, und vermuteten hinter meiner Entscheidung eine Erpressung von Maitri und (vor allem) Nemo. Das war für mich der entlarvenste Moment: Ausgerechnet die Menschen, die mich ein Jahr lang umschwärmt hatten, und jetzt wie eine heiße Kartoffel fallen ließen, wollten mir einreden, dass mich Maitri und Nemo, die meine Gefühle eindeutig erwidert hatten, mich von Anfang an fair behandelt, und mich gepflegt hatten, als ich krank war, unterdrücken und ausnutzen würden.

So wurde sichtbar, dass offensichtlich keine_r der Menschen, die ich aufgrund ihrer vermeintlich freundlichen Handlungen über Wochen und Monate hinweg als gute Bekannte oder sogar Freunde eingestuft hatte, ihr Interesse oder ihre Zuneigung ernst gemeint hatten. Stattdessen war ich auf Lovebombing hereingefallen, wodurch ich als junge, attraktive, tolerante Frau für feige Hetero-Männer Aufmerksamkeit und Sex liefern sollte, ohne dasselbe von ihnen als Gegenleistung zu erhalten.

Ich habe seitdem die Poly-Szene verlassen und kann jedem Menschen nur raten, schleunigst das Weite vor dieser Unglück fördernden Subkultur zu suchen!

Update, August 2020:

Die australische Musikerin Tones and I hat das Lied Ur So F**king Cool herausgebracht. Obwohl Polyamorie im Lied nicht vorkommt, beschreibt es in Text und Video sehr treffend meinen Eindruck der Poly-Szene:

 

Die Poly-Szene – Teil 5/5: Wege aus der Krise oder: Wie die Szene reformiert werden könnte

1. Die Partnerbörse sichtbar machen

Alle Veranstaltungen der Poly-Szene, während denen Menschen locker zusammenstehen / sitzen (können) als Partnerbörsen kennzeichnen. Das betrifft Themen-Stammtische, Treffen, Unternehmungen, und lose gestaltete Workshops. Einzig durchstrukturierte Workshops haben mangels Gelegenheit zum „Mingeln“ keine versteckte Partnerbörse laufen, und wären daher von dieser Notwendigkeit ausgenommen.

Zweck:

Um damit die Intention die meisten Teilnehmer_innen transparent zu machen, und dadurch Hintenrum-Spielchen zu erschweren, etwa dass freundschaftliches Interesse vorgetäuscht wird, wenn es eigentlich um einen Aufriss oder ein romantisches Interesse geht.

Umsetzung:

In die Vorankündigung, die Facebook-Veranstaltung, auf die Website, usw. einen Hinweis schreiben:

„Die Veranstaltung wird vor allem als Partnerbörse genutzt.“

u. Ä.

Dies wäre auch für andere Veranstaltungen nützlich, welche zwar kein offizielles Poly-Event sind, oder „Poly“ im Titel tragen, wo aber meistens eine Mehrheit an poly-lebenden oder an Polyamorie interessierten Menschen anzutreffen ist. Ohne regulierende Maßnahmen verhalten sich solche Menschen nämlich wie auf einer offiziellen Poly-Veranstaltung, und bringen so die versteckte Partnerbörse, sowie deren toxische Dynamiken (Lovebombing, etc.) unbewusst mit.

2. Verhaltensregeln (als Minimal-Konsens) für erotische und romantische Kontaktaufnahmen einführen

Wer ausgesprochene und unausgesprochene Verhaltensregeln aufhebt, aber gleichzeitig keine neuen Regeln schafft und einfordert, produziert einen unsicheren Raum, in dem sich schüchterne Menschen aus Angst vor Strafe nichts probieren trauen, sowie übergriffige Menschen einfach alles probieren, was ihnen gerade nützlich erscheint. Ohne klare Regeln und Zuständigkeiten setzen sich in einem solchen Machtvakuum letztendlich die rücksichtslosesten Menschen (auf der Distanzskala: Bitches, Traumprinzen, sowie Missbrauchstäter_innen) durch.

Dieses Problem hat jede alternative Szene, die andere Werte und Verhaltensweisen als der Mainstream etablieren will. Die Poly-Szene produziert diese Dynamik, indem sie die Verhaltensregeln der monogamen Anbahnung abschafft, ohne jedoch klare Verhaltensregeln für die neue, polyamore Art der Anbahnung aufzustellen.

Jeder sichere Raum (engl. safe space) bietet daher nicht nur einen eigenen Aufenthaltsort abseits des Mainstreams, sondern auch eindeutig verständliche Verhaltensregeln, sowie Menschen, die diese vorleben, erklären, einfordern, und welche außerdem übergriffige Menschen, die sich wiederholt entgegen den Regeln verhalten, dem Raum verweisen.

Zweck:

Um Rape Culture zu verhindern, und stattdessen einen fairen und freundlichen Umgang der Besucher_innen untereinander herzustellen, der bei Abweichung mit Verweis auf die Verhaltensregeln konkret einforderbar ist.

Umsetzung:

Aufgrund der romantischen Offenheit wären für einen Poly-Raum die folgenden Zugänge am wichtigsten:

  • Vorhandene Beziehungen sind zu respektieren. Wenn jemand ein sexuelles oder romantisches Interesse an einer Person hat, ist es die Aufgabe der anbahnenden Person (!), anwesende Beziehungspartner_innen zu berücksichtigen.
  • Menschen, die für mehrere Menschen sexuell oder romantisch interessant sind (meistens junge Frauen) sollten nicht „eingekesselt“, und bedrängt werden. Eine (erste) Kontaktaufnahme sollte immer so passieren, dass sie auch im öffentlichen Raum ok wäre.

Vorbild dazu könnten von der Art her z. B. die Umgangsformen diverser Swingerclubs sein, die jahrzehntelange Erfahrung mit ähnlichen Dynamiken haben, und daher üblicherweise auf ihren Websites oder auf Veranstaltungen ihre Verhaltensregeln zentral veröffentlicht haben. Dieselben Richtlinien sind gut auf romantische Kontaktaufnahmen anwendbar.

Hier ein Auszug aus den Regeln des Swingerclubs Hollywood in Wien:

  • Sei immer höflich
  • Vermute nie
  • Bevor Du jemand berührst, bitte um Erlaubnis
  • „Nein“ bedeutet „Nein“. Nimm es würdevoll an.
  • Niemand gefällt jedem. Denke nie das Du mehr weißt was sie will, als sie selbst. Wenn sie oder ihr Partner „Nein“ sagt, dann ist das genau das, was es bedeutet, frage nicht „warum“.
  • Die meisten Leute haben einen Partner, binde sie in Dein Gespräch ein sofern es passt.

Quelle: Swingerclub Hollywood (2016) Regeln und Verhalten für Männer [Online]. Verfügbar auf http://paerchenclub.at/index.php/regeln-und-verhalten-fuer-maenner.html (Abgerufen am 15. September 2016).

Wenn die Poly-Veranstaltung an einem Ort stattfindet, wo auch Sex möglich ist, sind einige Richtlinien für die Anbahnung von sexuellen Situationen sogar zwingend notwendig, weil eben nicht alle Menschen für alles und jede_n offen sind, und schöne Erlebnisse für alle Beteiligten (!) nur innerhalb gewisser Grenzen (Konsens!) und Sicherheiten (Fairness) möglich werden.

Dies kann auch auf eine kreative Art und Weise passieren: Kurz-Workshops mit Beispielsituationen, Do’s und Don’ts in der Praxis vorzeigen, Situationen unter Anleitung üben, oder Impro-Theater.

Im Regelbetrieb bei zu vielen Verstößen Leute verwarnen / rauswerfen.

3) Auf allen Veranstaltungen, die Partnerbörsen-Aspekte haben, Signal-Armbänder tragen

Dieser Ansatz basiert auf einem System, das durch US-College-Partys bekannt wurde: Jede_r trägt zwei Armbänder (eins links, eins rechts), die einem Farbcode folgen. Wer keine Armbänder tragen will, bekommt keinen Zutritt zur Veranstaltung.

Zweck:

Um Intentionen transparent zu machen, und unfaire Spielchen durch Vorspielen falscher Interessen zu unterbinden. Ein angenehmer Nebeneffekt wäre auch, dass Besucher_innen angeregt werden, ihre eigenen Intentionen zu hinterfragen: Was will ich eigentlich hier, von wem und wozu? Diese Erfahrungen könnten dann sogar in einer anschließenden Selbsterfahrungsgruppe reflektiert werden.

Umsetzung:

Linkes Armband = sexuelles Interesse
Rechtes Armband = romantisches Interesse

Hinter der Zuordnung von links und rechts steht die Überlegung, dass die meisten Menschen Rechtshänder sind, und daher als Erstes nach rechts schauen, also auf die linke Hand eines Gegenübers. Links zeigt das sexuelle Interesse, weil dieses zentral entscheidet, was an diesem Abend oder in der folgenden Nacht (nicht) passieren wird.

Links:

  • Rot = No touchy, nur plaudern: Ich will hier einen netten Abend mit Gesprächen verbringen.
  • Blau = Berührungen erwünscht: Ich will angezogen ein bisschen herumspielen, und erotischen Körperkontakt.
  • Gelb = Petting: Ich will mich halb ausziehen, massieren oder massiert werden, oder Fummeln, aber nicht eindeutig Sex.
  • Grün = Ich bin vielem offen: Ich will mich untenrum ausziehen, Sex haben, und was sonst noch Spaß macht.

Rechts:

  • Rot = Ich suche keine (weitere) Beziehung: Nein. Lass es einfach.
  • Blau = Anbahnung möglich: Suche hauptsächlich Freundschaften, aber wenn jemand Passendes auftaucht, warum nicht.
  • Gelb = Anbahnung erwünscht: Ich wünsche mir eine Beziehung, aber sei bitte du der_die Aktive.
  • Grün = Suche aktiv: Ich wünsche mir eine (weitere) Beziehung und bin zur Partnersuche hier.

Armbänder signalisieren die grundsätzliche Interessenslage und ersetzen natürlich keine Konsensverhandlung mit einzelnen Menschen: ablehnende nonverbale Signale, „Vielleicht“ und „Nein“ heißen „Nein“ – egal welche Farbe das Armband hat! Spielarten wie Vanilla oder BDSM müssen genauso extra verhandelt werden.

Armbänder können im Laufe des Abends je nach Interesse nachjustiert werden.

Damit sich Menschen, deren sexuelles und / oder romantisches Interesse lesbisch / schwul oder bi / pan ist, wahrgenommen fühlen und nicht hinter den überwiegenden Hetero-Kontaktaufnahmen verschwinden, könnten diese ein weiteres Armband mit einem sichtbaren Regenbogen, oder die Bi-Farben tragen.

Um auch hier in sexuelles und romantisches Interesse zu trennen, könnten alle Personen zwei Armbänder für jede Hand bekommen.

Erstes Armband: obige Einteilung

Zweites Armband:

  • Weiß = Suche ausschließlich hetero
  • Regenbogen = Suche ausschließlich lesbisch / schwul
  • Bi-Farben = Suche bi / offen für alle Geschlechter

Wenn ein Armband rot ist, muss kein weiteres Armband zusätzlich getragen werden: Für platonische Gespräche ist die sexuelle oder romantische Orientierung schließlich egal. Wer trotzdem unbedingt die eigene sexuelle oder romantische Orientierung zeigen will, hat gleich eine gute Gelegenheit, die eigenen Wünsche zu hinterfragen.

Ein Mann, der Sex mit Männern und Frauen aufgeschlossen ist, aber sich eine romantische Beziehung nur mit einer Frau vorstellen kann (heteroamor und bisexuell), könnte dann etwa folgende Armbänder bekommen:

Links:

  • Erstes Armband: Grün (Sex haben)
  • Zweites Armband: Bi-Farben (mit allen Geschlechtern)

Rechts:

  • Erstes Armband: Gelb (Beziehung ja, aber ich bin schüchtern – mach du den ersten Schritt)
  • Zweites Armband: Weiß (Hetero, mit einer Frau)

Wer sich klar gegen sein Armband verhält, kann darauf angesprochen werden, einen Armbandtausch angeboten bekommen, und im Notfall verwarnt, oder nach mehreren Verstößen rausgeworfen werden.

Natürlich nicht:

“Hey, ich stör dich mal kurz beim Sex, magst du nicht dein rotes Armband weggeben?”

 

Sondern:

“Wir haben mitbekommen, dass du heute Sex hattest. Wenn du nochmal herkommst, trag bitte ein gelbes oder grünes Armband und kein rotes. Das ist nämlich sonst den anderen Besucher_innen gegenüber unfair, weil du nicht ehrlich bist. Und Grün heißt übrigens nicht “Lizenz zum Grabschen für alle”. Sollte dich jemand so behandeln, sag uns das bitte und wir schmeißen den / die dann raus!”

4) Mehrere erfahrene Menschen zum Raum überblicken einteilen

Auf jeder Poly-Veranstaltung sollte es mehrere Menschen geben, deren ausschließliche Zuständigkeit das Überblicken des Raumes, sowie das Ahnden von Regelverstößen ist.

Zweck:

Da Poly-Veranstaltungen offen für Neulinge sind, und meistens sogar hauptsächlich aus unerfahrenen Menschen, sowie völligen Neulingen bestehen, braucht es erfahrene Menschen, welche die Verhaltensregeln aufstellen, vorleben, erklären, einfordern, sowie übergriffige Menschen verwarnen, und diese nach mehreren Verwarnungen, oder einem schweren Verstoß, z. B. Grabschen, dem Raum verweisen. Sobald ein Raum aus überwiegend erfahrenen Menschen besteht, welche die Verhaltensregeln ganz selbstverständlich anwenden und gegenseitig einfordern, fällt die Notwendigkeit von extra zuständigen Menschen weg.

Während meines Jahres in der Poly-Szene Wiens gab es auf einigen Poly-Veranstaltungen zwar Menschen, die sich laut eigener Aussage für den Raum zuständig fühlten – meistens die Organisator_innen der jeweiligen Veranstaltung. Das wurde jedoch gegenüber Neulingen überhaupt nicht kommuniziert – im Gegenteil, ich erfuhr erst im Laufe von mehreren Veranstaltungen über Nebenbemerkungen, dass es überhaupt eine Ansprechperson für soziale Probleme gab. Diese „Ansprechpersonen“ verbrachten dann allerdings den Abend de facto unansprechbar in einer Ecke, ständig umgeben von einer Menschentraube (aus Freund_innen oder anderen Menschen, die sich das Wohlwollen der Organisator_innen sichern wollten), oder verschwanden zu später Stunde selbst mit einem Aufriss.

Umsetzung:

Als Ansprechpersonen sollten immer mehrere Personen gleichzeitig zuständig sein, damit sie einerseits das ganze Lokal überblicken, andererseits auch mal aufs Klo oder kurz quatschen gehen können. Die zuständigen Menschen gehen immer wieder durch den Raum, und besprechen sich zwischendurch. Am besten mit T-Shirt oder Schild, damit Neulinge diese bei Unklarheiten gleich finden und ansprechen können. Bei Situationen, in denen sich ein Mensch sichtlich unwohl fühlt, kommt jemand vom Team von selbst nachschauen, und spricht die Beteiligten aktiv an: „Hey, alles ok bei dir?“, usw.

Sobald sich ein Mensch gegen die Regeln verhalten hat, nimmt eine_r vom Team diesen Menschen zur Seite und erklärt die Situation. Wer das eigene Fehlverhalten nicht einsieht, oder zwar Einsicht vortäuscht, aber dann weitermacht wie zuvor, wird für alle umstehenden Menschen gut wahrnehmbar verwarnt, und nach einer gewissen Anzahl an Verwarnungen (Gelbe Karte und rote Karte, drei Striche, etc.) je nach Schweregrad der Handlung entweder aus der Veranstaltung geschmissen, oder erhält temporär oder gänzlich Lokalverbot.