Evolution funktioniert nach dem Faulheitsprinzip: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Klar, denn ein Lebewesen, das unnötigerweise Energie verbraucht, wird die nächste Verknappung an Ressourcen schwerer überleben. Daher muss jeder hohe Energieaufwand durch einen entsprechenden Nutzen gerechtfertigt sein, denn sonst bleibt der Spezies nur, das „teure“ Merkmal rechtzeitig wieder zurückzubilden – oder auszusterben. Eine interessante Folge daraus ist, dass Vorgänge mit einem hohen Energieverbrauch, die bereits einen Nutzen haben, sich oftmals so weiterentwickeln, dass sie noch mehr Vorteile bringen.
Genau das ist mit der sexuellen Fortpflanzung passiert, die verglichen mit der asexuellen Fortpflanzung einen höheren Energieaufwand benötigt. In allen genügend komplexen Lebewesen haben sich Belohnungsmechanismen entwickelt, die sich einschalten, sobald dasjenige Lebewesen eine Handlung setzt, die förderlich für das eigene Überleben ist. Handlungen, die zwar das Überleben fördern, aber gleichzeitig einen hohen Energieaufwand und damit ein gewisses Risiko beinhalten, haben besonders starke Belohnungsmechanismen. Die Belohnung für Sex ist die sexuelle Lust und die anschließende Befriedigung. Beim Menschen und einigen anderen besonders intelligenten Tierarten hat genau dieser Belohnungsmechanismus beim Sex einen weiteren Nutzen bekommen: Zusätzlich zum Sex für Fortpflanzung haben diese Lebensformen eine weitere Form von Sex entwickelt, deren Ziel nicht mehr die Schaffung von Nachkommen ist – nämlich Sex zum Spaß. Bisher ist bekannt, dass große Aras (eine Papageienart), Delfine, einige Menschenaffen wie Schimpansen und Bonobos, sowie Menschen selbst das Konzept von Sex zum Spaß kennen.
Alle diese Lebensformen haben gemeinsam, dass sie eine gewisse Mindestintelligenz haben und in sozialen Gruppen zusammenleben. Sex ist eine lustvolle Handlung, die ein Mitglied der Gruppe mit den anderen Mitgliedern teilen kann. Wenn Individuen der Gruppe nun miteinander lustvollen Sex haben, stärkt das den sozialen Zusammenhalt: Schließlich werde ich einem Gegenüber, das mir Lust bereitet, und mir positive Erfahrungen verschafft, eher helfen, wenn es in einer Notlage ist, als einem anderen Gegenüber, das mir mögliche lustvolle Erlebnisse vermiest, oder sogar lustvolle Situationen aktiv blockiert. Sex zum Spaß erhöht so die Bereitschaft der Gruppenmitglieder, sich gegenseitig zu helfen, also Solidarität zu zeigen, und macht daher jedes einzelne Individuum und infolgedessen die gesamte Spezies überlebensfähiger.
Wenn du der obigen Beschreibung von Solidarität innerlich zugestimmt hast – Gratulation: Du hast die Fairness einer solchen Situation instinktiv verstanden. Das bedeutet, dass du ein unbewusstes evolutionäres Erbe (nämlich das Verständnis von Solidarität) im Bewusstsein hast. Während alle Menschen dieses Erbe in ihren Gehirnwindungen mit sich herumtragen, schlummert es bei der Mehrheit unbewusst und ungenutzt vor sich hin, weswegen sich die meisten erwachsenen Menschen immer wieder in Lebenssituationen wiederfinden, in denen sie entweder ausgebeutet werden oder selbst ausbeuten – eben ohne Solidarität.
Da Sex nicht mehr ausschließlich auf Fortpflanzung abzielte, sondern auch auf den sozialen Zusammenhalt der Gruppe, entwickelten sich zahlreiche sexuelle Spielarten, die für die Fortpflanzung keinen Sinn ergeben, und aus deren Blickwinkel als überflüssig erscheinen. Das berühmteste Beispiel ist Homo- und Bisexualität. Für die Fortpflanzung ist sie irrelevant, die biologisch ja nur über Hetero-Sex möglich ist. Aus Sicht des sozialen Zusammenhalts ist sie eine großartige Entwicklung: Denn Menschen, die bisexuell sind, können grundsätzlich mit den meisten der anderen Gruppenmitglieder lustvollen Sex haben und so die meisten positiven sozialen Vernetzungen aufbauen. Menschen, die rein homosexuell sind, können Druck aus der Gruppe nehmen, indem sie lustvollen Sex haben können, der garantiert keine Nachkommen produziert. So bekommt die Gruppe in Notzeiten nicht noch mehr Mitglieder, während der soziale Zusammenhalt, der ja gerade dann wichtig ist, weiterhin gestärkt wird.
Die Prinzipien Yin und Yang entwickelten sich mit der neuen Situation mit: Geht es um Fortpflanzung, ist Yang als das gebende und anstoßende Prinzip die Seite, die Spermien produziert, und Hindernisse überwindet, um diese zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu bringen. Yin ist als das aufnehmende und wandelnde Prinzip die Seite, die die Spermien aufnimmt, schwanger wird, und neues Leben gebärt. Wenn die Fortpflanzung aber nicht mehr Ziel des Sex ist, oder im Fall von Homosexualität gar nicht passieren kann, macht es keinen Sinn mehr, Yin und Yang so zu beschreiben.
Der neue Nutzen von Sex änderte allerdings nichts am körperlichen Ablauf: Die Körper, die Geschlechtsorgane, und die biologischen Prozesse hinter der sexuellen Lust sind schließlich immer noch dieselben, auch wenn am Ende keine Schwangerschaft herauskommt. Bei Menschen drehen sich Yin und Yang daher um die eine Eigenschaft, die sich klar geändert hatte, also worum es bei Sex zum Spaß vorrangig geht – der Entstehung von lustvollen Gefühlen für alle Beteiligten: Eine Seite gibt und stößt an, die andere Seite nimmt diese Stöße auf und wandelt sie in sexuelle Lust um, die sich auch für die gebende Seite lustvoll anfühlt. Das macht die aktive Seite, die gibt, zum Yang. Und die reaktive Seite, die aufnimmt, zum Yin.
Da aber alle sexuellen Orientierungen vertreten sind, und somit auch zwei gleiche Geschlechtsorgane aufeinandertreffen können, entscheidet sich diese Verteilung nicht mehr daran, wer welche Geschlechtsmerkmale hat, sondern wer eine Handlung als aktiver Mensch durchführt, und wer diese als der reaktive Mensch in sich aufnimmt.
Beispiele:
- Hetero-Sex:
Mann stößt Frau mit seinem Penis: Mann = Yang, Frau = Yin
Frau reitet Mann, Mann liegt still: Frau = Yang, Mann = Yin
- Homo-Sex:
Frau fingert weitere Frau: Aktive Frau = Yang, Frau, die gefingert wird = Yin
Mann hat Analverkehr mit weiterem Mann: Mann, der fickt = Yang, Mann, der sich ficken lässt = Yin
Nun gibt es aber einen Unterschied zwischen den erwähnten besonders intelligenten Tierarten und der Tierart Mensch: Während Tiere mit einem Gegenüber mittels Gerüchen, Körpersprache und einigen Lauten kommunizieren, hat beim Menschen die verbale Sprache einen wesentlich größeren Teil der Kommunikation übernommen. Sie hat sogar einen so großen Stellenwert, dass sie die Art, wie Menschen Yin und Yang über Sex ausdrücken, wesentlich beeinflussen kann. Über verbale Sprache können Menschen nämlich „spielen“, also wie bei einem Spiel Regeln im Konsens ausverhandeln, nach denen der Sex dann abläuft. So können die obigen Handlungen in einen ganz anderen Kontext gesetzt werden.
Zur Wiederholung:
- Yin ist das aufnehmende und wandelnde Prinzip
- Yang ist das gebende und anstoßende Prinzip
So kann aus der gebenden Seite eine werden, die nicht nur die körperlichen Handlungen, sondern auch einen Teil oder sogar die gesamte lustvolle Situation „gibt“, diese also herstellt und dann Regie führt. Die aufnehmende Seite wiederum nimmt nicht nur die körperlichen Handlungen auf, sondern folgt den Regieanweisungen, soweit für sie lustvoll, und wandelt so die Fantasie der „Regie“ in realen, für alle Beteiligten lustvollen Sex um. Die Zusammenfassung aller sexuellen Spielarten, die auf diese Weise funktionieren, hat im eurozentrischen Kulturkreis die Bezeichnung BDSM bekommen. Der Einsatz von Regeln, Kontrolle und Konsensverhandlung über verbale Sprache kann die Position von Yin und Yang im Vergleich zu den körperlichen Handlungen sogar umkehren:
Beispiele:
- Hetero-Sex:
Mann stößt Frau mit seinem Penis und „befiehlt“ der Frau, sich nehmen zu lassen: Mann = Yang, Frau = Yin
Mann stößt Frau mit seinem Penis, während ihm die Frau „befiehlt“, wie genau er sie ficken soll: Frau = Yang, Mann = Yin
Frau reitet Mann, Mann liegt still, Mann sagt der Frau, wie sie es sich besorgen soll: Mann = Yang, Frau = Yin
Frau reitet Mann, Mann liegt still, Frau benutzt den Körper des Mannes als lustvolles Werkzeug: Frau = Yang, Mann = Yin
- Homo-Sex:
Frau fingert weitere Frau, hält sie fest und „befiehlt“ der anderen Frau, auf ihre Finger abzugehen:
Aktive Frau = Yang, Frau, die gefingert wird = Yin
Frau fingert weitere Frau, welche aber der ersten ansagt, wie genau sie gefingert werden möchte:
Frau, die gefingert wird = Yang, aktive Frau = Yin
Mann hat Analverkehr mit weiterem Mann, hält ihn fest und „befiehlt“ ihm, sich nehmen zu lassen:
Mann, der fickt = Yang, Mann, der sich ficken lässt = Yin
Mann hat Analverkehr mit weiterem Mann, welcher aber dem ersten ansagt, wie er ihn ficken soll:
Mann, der sich ficken lässt = Yang, Mann, der fickt = Yin