Die Distanzskala – Teil 1/6: Vorstellung des Modells
Ich habe ein Modell entworfen, welches zahlreiche Missverständnisse und Konflikte zwischen zwei Menschen erklärt, die
- Sex anbahnen,
- miteinander Sex haben,
- eine romantische Beziehung anbahnen,
- oder in einer romantischen Beziehung sind.
Ich nenne das Modell die Distanzskala.
Während es auf der Näheskala darum geht, wie Menschen Vertrauen aufbauen und ehrlich miteinander kommunizieren können, bildet die Distanzskala das Gegenteil ab. Menschen auf der Distanzskala kommunizieren meistens in hässlichen Spielchen und Racheaktionen – je höher die Stufe, desto härter. Ihr gemeinsames Merkmal ist der Glaubenssatz, dass nur stark sein kann, wer (vermeintlich) schwächeren Mitmenschen etwas wegnimmt. Wer diesem Glaubenssatz folgt, bringt immer mehr Distanz und soziale Kälte zwischen sich und alle anderen Menschen.
Die Liebe ist ein seltsames Spiel
Tatsächlich zerlegt die Distanzskala das Patriarchat nach der Transaktionsanalyse in eine Sammlung aus destruktiven Spielen. Die Transaktionsanalyse ist eine Disziplin der Psychologie, die der kanadische Psychotherapeut Eric Berne begründet und in den 1960ern in seinem Buch Spiele der Erwachsenen (im englischen Original Games People Play) veröffentlicht hat.
Ein Spiel, oder besser übersetzt, ein Spielchen, hat den Zweck, Anerkennung oder Aufmerksamkeit von anderen Menschen zu bekommen, ohne dafür eine Gegenleistung zu bringen. Dazu deutet Mensch A eine Gegenleistung an, oder täuscht sogar eine vor, und bekommt dafür eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit oder Anerkennung von Mensch B. Will Mensch B diese Gegenleistung dann einlösen, kommt von Mensch A nichts mehr. Diese Art der Kommunikation ist per Definition unfair. Das ist auch ihr Zweck, denn Spielchen dienen der Vermeidung von ehrlicher Kommunikation und echter, energiegebender Nähe. Vor Ehrlichkeit und Nähe hat der_die Spielende nämlich Angst: Das bekannte Unglück fühlt sich einfach sicherer an als das unbekannte Glück.
Die Distanzskala basiert auf den traditionellen Geschlechterrollen, also Sammlungen an un- und halbbewussten Annahmen, Überzeugungen und Verhaltensmustern, die Menschen in einer patriarchalen Kultur anerzogen bekommen. Die gegenwärtige feministische Literatur geht davon aus, dass es genau zwei solche Verhaltensmuster gibt, in denen Frauen und Männer jeweils erzogen werden – diese bezeichne ich als die Rolle „Frau“ und die Rolle „Mann“. Wenn ein Mensch eine dieser Rollen im Alltag un- oder halbbewusst anwendet, produziert das ein von außen deutlich sichtbares Verhalten:
- Überzeugungen der Rolle „Frau“ produzieren problematische / toxische Weiblichkeit (toxic femininity).
- Überzeugungen der Rolle „Mann“ produzieren problematische / toxische Männlichkeit (toxic masculinity).
Durch genaue Alltagsbeobachtungen habe ich allerdings festgestellt, dass in diesem Zusammenhang nicht zwei, sondern acht unterschiedliche Verhaltensmuster existieren. Jede Rolle zerfällt nämlich in vier Ausprägungen:
Die vier Verhaltensmuster der Rolle „Frau“ nenne ich:
- Entitlement Girl,
- Material Girl,
- Bitch(prinzessin),
- Missbrauchstäterin.
Die vier Verhaltensmuster der Rolle „Mann“ nenne ich:
- Entitlement Guy,
- Frauenversteher,
- Traumprinz,
- Missbrauchstäter.
Die Namen der Stufen sind bewusst plakativ gewählt. Sie folgen der Konvention der Transaktionsanalyse, mit möglichst kolloquialen, „drastischen“ Begriffen einen hohen Erkennungswert beim betroffenen Menschen auszulösen. Darin liegt die Stärke der Distanzskala: Die meisten der beschriebenen Verhaltensweisen sind den betroffenen Menschen großteils unbewusst (was sie nicht weniger destruktiv macht), und können so viel eher bewusst (gemacht) werden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, welche Überzeugungen und Verhaltensweisen einer schönen, energiegebenden Liebesbeziehung im Weg stehen.
Wie die meisten Spielchen hat die Distanzskala mehrere Härtestufen, die dasselbe Ziel durch eine andere, destruktivere Strategie verfolgen. Daher kommen diese Muster kommen nicht lose vor, sondern bauen als Stufen aufeinander auf.
Die Distanzskala beginnt dort, wo auch das Patriarchat seinen Anfang nimmt: in der Erziehung.
Wenn Eltern und Umfeld eines Kindes sagen, sie erziehen ihr Kind „als Mädchen“ oder „als Bub“, meint das bei den Allermeisten, dass sie das Kind für bestimmte Verhaltensweisen belohnen, andere jedoch bestrafen, mit der einzigen Begründung „weil du ein Mädchen bist“ / „weil das Mädchen nicht machen“ bzw. „weil du ein Bub bist“ / „weil das nichts für Buben ist“. Diese patriarchale Einteilung ist unter dem Begriff Sexismus besser bekannt.
Ein Kind, welches als „Mädchen“ angesprochen wird, entwickelt sich somit über Zeit zu einem Menschen in der Rolle „Frau“. Ein Kind, welches „als Bub“ angesprochen wird, wird hingegen über Zeit zu einem Mensch in der Rolle „Mann“.
Was die Allermeisten allerdings nicht wissen, ist, dass eine solche vollkommen willkürliche Zweiteilung aufgrund des Geschlechts Entitlement, also ungerechtfertigte, unfaire Erwartungen hervorbringt. Weil nämlich ein bestimmtes Geschlecht etwas „darf“, was das andere wiederum „nicht darf“, erhalten die Geschlechter nicht nur unterschiedliche unfaire Nachteile / Pflichten, sondern auch unterschiedliche unfaire Vorteile / Frechheiten. Wenn nun eine Seite gegenüber einem anderen Menschen auf dieser Verteilung mit allen unfairen Vor- und Nachteilen besteht, hat diese Seite eine unfaire Erwartung.
Aus diesem Grund heißt die Stufe 1 der Distanzskala Entitlement Girl bzw. Entitlement Guy.
Die Distanzskala für die Rolle „Frau“
Hier gibt es die volle Distanzskala für die Rolle „Frau“.
Die Distanzskala für die Rolle „Mann“
Und hier die volle Distanzskala für die Rolle „Mann“.
Die Stufen oder: Wie das Patriarchat Menschen kaputtmacht
Die meisten Menschen behalten das anerzogene Verhaltensmuster ihr Leben lang bei. Dieses verinnerlichte Patriarchat verhindert jedoch, Sex und Liebe gesund auszuleben. Daher sind die meisten Menschen mit einem patriarchalen Verhaltensmuster bereits als Jugendliche zahlreichen Lebenssituationen ausgesetzt, die ihre sexuellen und/oder romantischen Wünsche immer wieder beschneiden. Als Erwachsene fühlen sich diese Menschen dann von ähnlichen Situationen angezogen, welche sie wieder unbefriedigt und frustriert zurücklassen.
Da sie bei Sex und Liebe kaum Qualität erlebt haben, setzen sie nun auf Quantität. Daher versuchen viele Menschen an dieser Stelle, das Loch mit mehr Aufmerksamkeit anderer Menschen zu füllen. Die Distanzskala bildet einen solchen Schritt ab, indem der betreffende Mensch entlang der Distanzskala hinaufwandert. Ein Entitlement Girl wird dann zum Material Girl, und ein Entitlement Guy zum Frauenversteher. Das Wechseln von einer Stufe zur nächsten dauert üblicherweise mehrere Jahre. Dabei probiert der betreffende Mensch unbewusst und schleichend Ignoranzen, Spielchen, und Täuschungsmanöver aus der patriarchalen Umgebung aus, bis die neue Stufe im Verhalten sichtbar wird.
Da die gewünschte Aufmerksamkeit nun einfacher „verfügbar“ ist, bringt der Schritt auf die nächste Stufe erst einmal eine Erleichterung. Das Hässliche an dieser Weiterentwicklung ist jedoch, dass sich durch Spielchen nur kurzfristig Aufmerksamkeit erschleichen lässt. Aufmerksamkeit, die alle Beteiligten auch tatsächlich wollen und meinen, also echte, energiegebende Nähe zu anderen Menschen, entsteht dadurch nicht. Im Gegenteil, die energiefressenden Spielchen verstärken das Grundproblem sogar, bis ein erneutes Raufwandern passiert, um mit der unverändert unglücklichen Situation umzugehen.
Jede neue Stufe entsteht also aus den Erfahrungen, Enttäuschungen und Verletzungen der vorherigen. Deshalb ist es nicht möglich, eine Stufe zu überspringen: Jeder Frauenversteher war einmal ein Entitlement Guy, und jede Bitch einmal ein Material Girl. In ausgeprägt patriarchalen Umgebungen können Menschen jedoch besonders schnell die Distanzskala hinaufwandern, sodass sie weniger als ein Jahr auf einer Stufe verbringen. Das kann etwa ein kirchentreues Dorf am Land sein, aber auch ein Stadtbezirk mit Menschen aus Kulturen, welche mehr Patriarchat als die eurozentrische/westliche haben.
Wenn diese Verändung extrem verläuft, kommt am Ende ein Missbrauchstäter oder eine Missbrauchstäterin heraus. Um ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen, versuchen diese Typen von Menschen nicht einmal mehr zu kommunizieren. Stattdessen setzen sie jede gerade verfügbare Gewalt ein – physische Gewalt wie Drohungen, Nötigungen, Prügeln, Übergriffe oder psychische Gewalt wie Scapegoating, Gaslighting, Victimblaming und Erpressung. Diese Endstufe zeigt: Indem Geschlechterrollen bis zur letzten Konsequenz gelebt werden, bringt das Patriarchat ungefiltert „das Böse“ im Menschen hervor.
Solange die Situation weder großartig besser noch schlechter wird, oder sogar minimale Verbesserungen erfährt, sodass der betreffende Mensch nicht mehr so akut unglücklich ist, stoppt das die Dynamik, und der Mensch verbleibt auf der jeweiligen Stufe.
Ändert derjenige Mensch den eigenen Lebensentwurf hingegen drastisch und erlebt infolge dessen, dass sexuelle und romantische Wünsche befriedigt werden, kann dies sogar bewirken, dass der betreffende Mensch die Distanzskala langsam hinunterwandert: aus einem Material Girl wird wieder ein Entitlement Girl und aus einem Frauenversteher wieder ein Entitlement Guy.
Diese Entwicklung kann sogar soweit gehen, dass der Mensch die Distanzskala weitgehend verlässt. Die „Stufe 0“ ermöglicht dem betreffenden Menschen einen völlig neuen Charakter: einen gesunden Menschen ohne Geschlechterrolle, welcher unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen das Leben aktiv gestaltet, das sie, er oder sier wirklich will.