Die Distanzskala – Teil 3/6: Menschen, fiktive Charaktere oder Lieder einordnen
Der Abschnitt Die Distanzskala – Teil 2/6: Alle patriarchalen Dynamiken oder: Treffen sich zwei im Patriarchat erzogene Menschen… erklärt die „typischen“ Konflikte und Verletzungen zwischen Frauen und Männern – und allen Menschen, die sich überwiegend nach einer patriarchalen Rolle verhalten – anhand fiktiver Charaktere in Serien, sowie Liedern aus der Popkultur. Hier geht es zur Playlist auf Spotify. Sogar Handlungen von formulaischen Filmen, etwa Romcoms, folgen mit ihren Hauptcharakteren üblicherweise einer Dynamik der Distanzskala.
Wozu Menschen nach toxischen Verhaltensweisen einteilen?
Energiefressende Verhaltensweisen – wie jene, welche die Distanzskala beschreibt – haben gemeinsam, dass sie meistens versteckt ablaufen: Die Leidtragenden fühlen sich missachtet, beleidigt, oder verletzt, können jedoch oft nicht die konkrete Ursache benennen. Das ermöglicht dem ausführenden Menschen, weiter Schaden anzurichten. Dies kann dann sogar bei den Leidtragenden toxische Verhaltensweisen auslösen, welche den ausführenden Menschen wiederum bestärken, etc. Dadurch hält eine Dynamik der Distanzskala die ǵesamte soziale Verbindung / Beziehung in einem energiefressenden Zustand.
Wer Menschen auf der Distanzskala einordnet, kann danach einige der energiefressenden Verhaltenweisen konkret benennen bzw. korrekt vorhersagen. Diese Vorhersage ermöglicht es auch, Maßnahmen zu ergreifen, welche den Schaden verringern: Der leidtragende Mensch kann den ausführenden Menschen darauf ansprechen, und andere Verhaltensweisen vorschlagen. Und der ausführende Mensch kann erkennen, dass er_sie gerade Schaden anrichtet, sich fragen, ob er_sie das wirklich will, und selbst eine Verhaltensänderung beginnen.
Außerdem hilft die Distanzskala dabei, die Schwere des Schadens einzuschätzen. Das ist wichtig, denn viel aktuelle Kritik von patriarchalen Verhaltensweisen geht daran schief, dass dabei alle Menschen, die sich irgendwie unfair verhalten haben, in einen Topf geworfen werden. In Folge werden eindeutig unfaire Menschen, die jedoch keine Gewalt ausüben, mit derselben Ablehnung wie Gewaltverbrecher behandelt. Das Schlimme an diesem Herangang ist, dass damit einerseits Gewalt verharmlost wird, und dass andererseits Opfer von Gewaltverbrechen sich nicht nur durch ihr eigenes Trauma, sondern auch noch eine verwirrende Sprache wühlen müssen, um ihre Anliegen durchzusetzen. Die Distanzskala ermöglicht durch ihre verschiedenen Stufen eine bessere Einordnung, und kann dadurch sowohl Menschen, die Alltagssexismus erfahren, als auch Opfern von Gewalttäter_innen gleichermaßen zu einer verständlicheren Sprache verhelfen.
Fiktive Charaktere auf der Distanzskala einzuordnen kann bei der Beurteilung eines „guten Films“ oder einer „guten Geschichte“ helfen: Wenn der Film eine toxische Dynamik abbildet, sollte er eher als abschreckendes Beispiel oder „Anleitung zum Unglücklichsein“ geschaut werden – und nicht als Vorbild für sexuelle Abenteuer und/oder romantische Beziehungen im echten Leben dienen.
Sowohl fiktive Charaktere als auch Lieder auf der Distanzskala einzuordnen kann wiederum ermöglichen, Menschen einzuschätzen: Wer die meisten Entscheidungen einer Bitch in einem Film gut findet, und diese in Diskussionen verteidigt, ist höchstwahrscheinlich selbst eine Bitch. Wer bei einem Lied, das den Innenzustand eines Frauenverstehers schildert, sehr mitfühlt, oder es „zwar problematisch, aber doch die Wahrheit“ findet, ist höchstwahrscheinlich selbst ein Frauenversteher. Und wenn das Lied eine Dynamik zwischen zwei Stufen der Distanzskala abbildet, hat derselbe Mensch entweder eine unverarbeitete Ex-Beziehung mit dieser Dynamik, was in nachfolgende Verliebtheiten oder Beziehungen hineinstören wird, oder lebt sogar in einer Beziehung, in der ebenjene Dynamik gerade läuft.
Ein paar Tipps zum Einordnen auf der Distanzskala
Die passende Rolle
Wie ich entdeckt habe, ist die Rollenverteilung in Medien für den Mainstream erschreckend klassisch: Männliche Sänger / Charaktere sind auf der Distanzskala der Rolle „Mann“, und weibliche Sängerinnen / Charaktere auf der Distanzskala der Rolle „Frau“. Diese Vorannahme funktioniert daher meistens.
Wer sich bei der Rolle unsicher ist, kann:
- Das Spielchen nachvollziehen:
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- Mensch täuscht sexuelle Verfügbarkeit vor -> Rolle „Frau“
- Mensch täuscht emotionale Verfügbarkeit vor -> Rolle „Mann“
- Oder wenn eine Rolle bereits bekannt ist, für die zweite Rolle einfach das Gegenstück annehmen (weil es für die Distanzskala eine Rolle „Frau“ und eine Rolle „Mann“ braucht).
Wer „vertauschte“ Rollen oder patriarchale Dynamiken bei lesbischen oder schwulen Interaktionen sichtbar machen möchte, findet diese am ehesten in Werken von queeren Künstler_innen.
Im Mainstream öfters zu finden sind Rollenwechsler – also Menschen, die sich zuerst entsprechend ihrer Rolle verhalten, aber dann plötzlich in der gegensätzlichen, „unpassenden“ Rolle auftreten: Das kann etwa eine Frau sein, die zuerst als Befehlsempfängerin von Männern auftritt, aber dann plötzlich die Führung übernimmt, oder ein Mann, der zuerst unnahbar erscheint, aber plötzlich zum Fangirly wird. Solche Charaktere verhalten sich nicht „wie erwartet“ und eignen sich daher gut für Situationskomik, sowie Verwirrungen in der Handlung. Aus demselben Grund werden sie jedoch zur Zielscheibe homophober Witze, oder dienen generell als negative Darstellung von Menschen abseits einer heteronormativen Lebensweise.
Ein konkretes Beispiel eines Rollenwechslers ist der Charakter Raj Koothrappali in der Sitcom The Big Bang Theory: Gegenüber seinen weiblichen Dates verhält er sich in der Rolle „Mann“ als Entitlement Guy. Mit seinen Freunden, speziell Howard, wechselt er jedoch in die Rolle „Frau“ und verhält sich wie ein Entitlement Girl, was die homoerotische Anziehung zwischen Howard und ihm aufrecht erhält.
Die passende Stufe
Um die richtige Stufe zu finden, empfehle ich, die Distanzskala von der höchsten zur niedrigsten Stufe durchzugehen – weil Stufe 4 am schrecklichsten, und somit am leichtesten zu erkennen ist.
Menschen auf Stufe 4 (Missbrauchstäter_in) benutzen physische (Verprügeln, Drohungen, etc.) oder psychische Gewalt (Erpressung, Gaslighting, etc.)., um damit die gewünschte Aufmerksamkeit zu erzwingen.
Stufe 3 (Bitch oder Traumprinz):
- findet sich selbst „zu gut für diese Welt“,
- erzählt über die Gefühle „hinter der Maske“ („Behind Blue Eyes“),
- schildert, wie er_sie ein Interesse vortäuscht, um sich damit etwas völlig Anderes zu erschleichen,
- liefert offene, teilweise geplante Manipulationen / Racheaktionen.
Stufe 2 (Material Girl oder Frauenversteher):
- verbiegt sich völlig für die Beziehung („Ja, Schatz!“),
- hat ein schlechtes Selbstwertgefühl und idealisiert andere Menschen („I’m a creep“),
- möchte unbedingt allen Erwartungen der eigenen sozialen Schicht, des Freundeskreises, etc. entsprechen und dafür bewundert werden,
- liefert impulsive, heimliche Racheaktionen.
- Wenn Stufe 2 finanzielle Zuwendungen ohne Gegenleistung erwartet („zahl mir das Getränk / das Haus / mein Leben“), ist es ein Material Girl.
Stufe 1 (Entitlement Girl / Guy) bleibt meistens nach Ausschluss der obigen Punkte übrig. Direkt erkennbar ist Stufe 1 daran, dass er_sie eigentlich ganz nett wirkt, aber dann plötzlich eine ungute oder unfaire Bemerkung über das jeweils andere Geschlecht macht.
Ich freue mich über Vorschläge, etwas auf der Distanzskala einzuordnen: Lieder, Seriencharaktere, Filmcharaktere, oder einfach Memes. Eindeutige Treffer nehme ich in diesen Artikel und die Spotify-Playlist auf. Wenn du eine gute Idee hast, schreib mir doch unter Frag sacriba!