Die Distanzskala – Teil 5/6: Der Sexismus des Entitlement Guys oder: Wie Männer die aufregenden Frauen vertreiben

Alle Verhaltensweisen der Distanzskala haben „klein angefangen“ – und zwar in der traditionellen Rolle „Frau“ und der traditionellen Rolle „Mann“, die Menschen je nach Geschlechtsmerkmalen bei der Geburt zugeteilt bekommen. Menschen mit Vulva werden dabei „als Frau“ erzogen, genauer, in ein Verhaltensmuster, das ich Entitlement Girl nenne. Menschen mit Penis werden hingegen „als Mann“ erzogen, genauer, in ein Verhaltensmuster, das ich als Entitlement Guy bezeichne.

Sobald im Patriarchat (v)erzogene Menschen in die Pubertät kommen, und ihre sexuellen und romantischen Bedürfnisse voll ausfalten, geschieht das mithilfe der anerzogenen toxischen Verhaltensweisen. Diese sind auf Stufe 1 der Distanzskala fast ausschließlich unbewusst, und daher mit der wenigen Lebenserfahrung der meisten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen kaum zu durchschauen.

Allerdings beginnt bereits hier das Bullshit-Bingo, mit dem Menschen auf Stufe 1 die Menschen wegschicken, die sie sich eigentlich als Sex- oder Beziehungspartner_in wünschen würden. Das Verhalten eines Menschen auf Stufe 1 vertreibt nämlich alle Menschen, die weniger Patriarchat haben. Damit sich ein Mensch abgelehnt fühlt oder vertrieben wird, reicht es nämlich, wenn er_sie weniger unfaire Erwartungen (Entitlement) hat. Einen weitgehend gesunden Menschen auf „Stufe 0“, der lustvollen Sex und eine liebevolle Beziehung aktiv herstellen kann, trifft dies natürlich am härtesten. Dadurch bleiben bald nur ungeeignete Menschen für Sex oder eine Beziehung übrig, was eine toxische Fortgehkultur und unglückliche Beziehungen hervorbringt.

So schicken Männer die aufregenden Frauen weg:

Ein Entitlement Guy hat eine Frau kennengelernt, mit der er Sex haben möchte. Also probiert er mit Verhaltensweisen, die er aus seiner sozialen Umgebung oder aus der Popkultur (Filmen, Serien, …) kennt, die Frau zu beeindrucken, was, so hofft er, irgendwann zu Sex führen wird. Im eurozentrischen Kulturkreis sind dies üblicherweise Nettigkeiten und Gefallen der Frau gegenüber, also Gesten wie Tür aufhalten, schwere Sachen tragen, kleine Geschenke ohne Anlass oder Handlungen wie Zuhören, eine gemeinsame Unternehmung, die der Frau gefällt, usw. Genau das tritt aber eine Spirale los, die effektiv verhindert, dass die Frau mit ihm einfach so Sex hat. Nicht weil nette Handlungen falsch wären – ganz im Gegenteil – sondern weil alle diese Handlungen nichts Sexuelles kommunizieren! Sie sind nett, aufmerksam, eventuell sogar lieb – aber nicht aufregend und geil. Diese Tatsache lässt die Frau unterschiedlich reagieren:

1) Die Frau ist ein völliges Entitlement Girl:

Sie freut sich an den Nettigkeiten, sieht aber keine Notwendigkeit darin, die Gefallen des Mannes in irgendeiner Form zu erwidern – ihre Leistung ist doch bereits ihre Anwesenheit, und dass sie Zeit mit ihm verbringt. Sex wird sie nur mit ihm haben, wenn er ihr ausreichend Aufmerksamkeit gegeben hat. Schafft er das Maß nicht, das sie sich vorstellt, waren seine Aufmerksamkeit und Aufwendungen eben gratis – selber schuld, wenn der Kerl sich nicht bemüht.

Falls der Entitlement Guy doch eine sexuelle Anspielung macht, die seinen Wunsch klarstellt, und noch nicht mit genügend Aufmerksamkeit dafür „bezahlt“ hat, reagiert das Entitlement Girl mit Empörung und Slutshaming gegenüber dem Mann: „Wie kommst du dazu, mich nach so etwas zu fragen?!“ Hier ist anzumerken, dass es natürlich die alleinige Entscheidung der Frau ist, mit wem sie Sex hat. Allerdings sagt sie nicht einfach „Nein“, was ausreichend wäre, sondern attackiert den Mann grundlos. Dadurch verhindert sie eine Konsensverhandlung – behandelt den Mann also übergriffig.

2) Die Frau ist noch ein Entitlement Girl, hat jedoch bereits begonnen, ihre eigenen unfairen Erwartungen infrage zu stellen:

Die Handlungen des Mannes kommunizieren nichts Sexuelles, daher steigt sie auf das ein, was sie versteht. Die Handlungen sind auf der Näheskala eindeutig zuordenbar:

  • Tür aufhalten, schwere Sachen tragen, über ein gemeinsames Thema unterhalten: Ebene 4, Bekanntschaft
  • Kleine Geschenke ohne Anlass, Zuhören, eine gemeinsame Unternehmung: Ebene 5, Freundschaft

Sie versteht also, dass der betreffende Mann eine platonische Bekanntschaft oder Freundschaft mit ihr beginnen möchte und gibt ihm entsprechende Gefallen zurück: Wenn er ihr bei einem Thema zugehört hat, hört sie ihm bei der nächsten Gelegenheit genauso zu. Wenn er ihr ein kleines Geschenk macht, überlegt sie sich ebenfalls ein kleines Geschenk im selben Wert für ihn, usw.

Da sie selbst noch unbewusst die patriarchale Lüge der Rolle „Frau“ laufen hat, die ihre Sexualität unterdrückt, kommt sie nicht auf die Idee, dass der Hintergrund der Gefallen Sex mit ihr sein könnte, und verbleibt deswegen bei einer Bekanntschaft oder Freundschaft. Falls der Entitlement Guy doch eine sexuelle Anspielung macht, die seinen Wunsch klarstellt, kennt sie sich entweder nicht aus („Ich dachte, wir wären befreundet?“), hält es für einen Scherz, oder empfindet es zwar als Kompliment, lehnt aber höflich ab, da sie den Mann aufgrund der gezeigten Handlungen nie als aufregend erlebt hat, und ihn daher auch nicht sexuell anziehend findet.

3) Die Frau ist weitgehend gesund und hat auch die patriarchale Lüge der Rolle „Frau“ durchschaut:

Sie überprüft, ob sie diesen neuen Mann attraktiv und sympathisch genug für Sex findet. Wenn ja, steigt sie ihm auf eine sexuelle Anspielung ein oder bietet ihm von sich aus bald Sex an. Wenn nein, oder wenn sie in einer Lebenssituation ist, in der das nicht passt, kommuniziert sie ihm höflich ihr Desinteresse. Andere Gefallen lehnt sie entweder ab, weil sie keine Bekanntschaft oder Freundschaft möchte, oder nimmt sie an, und achtet dann darauf, Gefallen im selben Wert zurückzugeben.

Nun fühlt sich der Entitlement Guy aber durch jede dieser Verhaltensweisen in seiner schlechten Meinung über Frauen bestätigt:

1) Entitlement Girl:

Während er sich bemüht, Zeit und Aufmerksamkeit investiert, kommt von der Frau genau gar nichts zurück. Er fühlt sich daher (zurecht) ausgenutzt und ist wütend auf die ignorante, eingebildete Tussi. Falls ihn das Entitlement Girl dann auch noch slutshamed, sobald er nach Sex fragt, geht er mit einer gehörigen Portion Rest-Wut aus der Begegnung, welche dann zukünftige Frauen – egal ob Entitlement Girl oder gesund – ausbaden werden. So wird er bei einer der nächsten Frauen nach einem Gefallen nicht mehr nach Sex fragen, sondern gleich Sex mit ihr einfordern, womit er ihr alleiniges Recht auf ihren Körper infrage stellt. Damit verhindert er eine Konsenverhandlung – behandelt die Frau also übergriffig.

2) Entitlement Girl, die ihr eigenes Entitlement hinterfragt:

Da kein Sex stattfindet, wurde sein Wunsch frustriert. Er ist daher unbewusst wütend auf die Frau, wovon er bewusst nur einen diffusen Ärger über sie, den er sich selbst nicht ganz erklären kann, mitbekommt. Jenen Ärger muss er irgendwo abreagieren, weswegen dieser schließlich in Form von Missachtung und Slutshaming gegenüber der Frau herausbricht: Er behandelt dann ihre Gegengefallen als selbstverständlich, wurscht oder sogar als „nicht gut genug“, und macht beleidigende oder abwertende Kommentare bei jeder Gelegenheit, die ihn an Sex erinnert – ihre Art zu kleiden, Fortgehen, Treffen mit anderen Männern, usw. Diese Situation beschreiben Entitlement Guys üblicherweise mit dem Begriff Friendzone.

Die Frau ist verständlicherweise beleidigt, weil er aus ihrer Sicht ihre jeweiligen Gefallen nicht wertschätzt, und verletzt, sobald er sie einige Male slutgeshamed hat. Das bewirkt, dass sie den Kontakt einschränkt oder ganz abbricht. Damit ist für den Entitlement Guy natürlich jegliche Chance auf Sex vertan – und er zieht über die Frau vor seinen männlichen Freunden her, die ihn durch ähnliche Erfahrungen mit Frauen dabei unterstützen.

3) Gesunde Frau:
3a) Sofort:

Der Entitlement Guy rechnet nicht damit, eine gesunde Frau vor sich zu haben, die ihm auf eine sexuelle Anspielung ernsthaft einsteigt oder ihm sogar von sich aus Sex anbietet. Er fühlt sich von der Selbstsicherheit der Frau erniedrigt, da er sie gerne beeindruckt hätte, nicht umgekehrt, wie es der Fall ist. Einerseits steht nun Sex endlich im Angebot, andererseits kommt er überhaupt nicht damit klar, dass die Frau „seine“ Rolle in der Interaktion einnimmt. Wenn die Frau zusätzlich sexuell erfahren ist, also weiß, was sie will und das auch verlangt, zerstört dies sein Weltbild endgültig. Der Entitlement Guy weiß nicht, wie er sich jetzt verhalten soll – und da die patriarchale Lüge der Rolle „Mann“ seine Empathiefähigkeit unterdrückt, fischt er aus seiner eigenen Verunsicherung das eine Gefühl, mit dem er sich auskennt, und das ihn wieder „männlich“ wirken lässt: Aggression. Also lässt er passiv-aggressiv eine möglichst abwertende Slutshaming-Bemerkung vom Stapel.

Die gesunde Frau hat aber kein Interesse an einem Männchen, das mit ihr völlig überflüssig um die Rangordnung streitet, sondern hätte sich einen Mann gewünscht, mit dem sie lustvollen, empathischen Sex haben kann. Sie zieht daher ihr Angebot nach dem Motto „Dann halt nicht, du Trottel“ zurück und sucht sich einen anderen, besser geeigneten Mann.

3b) Mit Zeitverzögerung:

Falls der Entitlement Guy trotz seiner gefühlten Erniedrigung höflich und freundlich reagiert, und es tatsächlich zu Sex kommt, wird die gesunde Frau danach kein zweites Mal Sex mit ihm wollen: Der Entitlement Guy ist nämlich der Meinung, dass seine Anwesenheit und Gefallen (egal, ob die Frau diese angenommen hat oder nicht) bereits seine Leistung waren und dass die Frau, indem sie Sex mit ihm hat, dafür „bezahlt“. Daher verhält er sich beim Sex ziemlich ignorant und tut nichts für die Lust der Frau – wozu auch, er hat seine Leistung ja schon längst erbracht. Auf Wünsche der Frau reagiert er genervt oder überhört diese einfach.

Die Frau hat dadurch verständlicherweise nicht viel Spaß, und wird sich für das nächste Mal einen geeigneteren Mann suchen, dem ihre Lust genauso wichtig ist wie ihr die seine. Der Entitlement Guy ist dann zwar das eine Mal befriedigt, aber stößt spätestens beim nächsten Mal, wenn er Sex möchte, auf Ablehnung und negatives Feedback der Frau. Darauf reagiert er mit Unverständnis und Wut – aus seiner Sicht gibt es schließlich keinen Grund, warum er Sex mit ihr nicht mehr „verdient“ hätte. Damit ist er wieder in der Ausgangssituation gelandet.