Die Näheskala – Teil 1/3: Vorstellung des Modells

Mein Lebensgefährte Nemo hat ein psychologisches Modell entwickelt: die Näheskala. Sie beschreibt unterschiedliche Stufen der sozialen Nähe zwischen Menschen. Sex auf der Ebene Lust und Verliebtheit/Beziehungswunsch/Partnerschaftsleben/Liebe auf der Ebene Liebe sind zwei verschiedene Stufen des Modells; es gibt aber noch weitere. Das gesamte Modell ist eine Tabelle und sieht so aus:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Art der Nähe Ausmaß der Nähe Handlungen
6 (inkludiert 3, 4 und 5 immer) Liebesbeziehung Leben teilen Intim Romantische Liebe Schmusen, Küssen, Lang umarmen, Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5 (kann 3 und 4 inkludieren, muss aber nicht) Freundschaft Wie geht es dir/uns? Wer ist der_die Andere? Emotional Platonische Zuneigung Reden (tief), Unternehmungen, Nacht durchquatschen, Probleme anschauen
4 (kann 3 inkludieren, muss aber nicht) Bekanntschaft Interessante Themen, Hobbys, Projekte Intellektuell Intellektuelles Interesse Gemeinsame Themen, Hobbys, Projekte vorantreiben, Selbsterfahrung
3 (schließt 1 und 2 aus) Fuckbuddy Sex Sympathisch und Körperlich Erotische Lust Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken
2 (schließt 1 aus) Systemerhalter Überleben Überlebensgemeinschaft Indifferenz Smalltalk, Gemeinsames Systemerhalten, Berufsgemeinschaft
1 (schließt alle anderen aus) Feindschaft Einander Fernbleiben Abstoßend Antipathie Ausweichen bis Wegweisen bis Vernichten

Die Stufen sind von 1 (die wenigste Nähe) bis 6 (die größtmöglichste Nähe) aufgeteilt. Die beschriebenen Ebenen 1 bis 6 sind stabile Zustände. Sie können zeitlich unbegrenzt stabil existieren, solange von allen beteiligten Menschen diese gemeinsame Ebene gewünscht ist, und alle Beteiligten die notwendige Zeit und Energie investieren. Instabile Zwischenzustände gibt es ebenfalls: Sie können nur für eine begrenzte Zeit halbwegs stabil existieren und haben immer ein Ablaufdatum. Um den Ebenen Leben einzuhauchen, sind sie hier als Antwort auf die folgende Frage beschrieben:

Wie sehe ich andere Menschen auf einer bestimmten Ebene?

Ebene 1: Dieser Mensch ist lästig, unausstehlich, akzeptiert meine Grenzen nicht oder ist sogar gefährlich. Am besten läuft er_sie mir nicht über den Weg. Tut er_sie es doch, reagiere ich mit Abweisen, Abblocken, Weggehen oder im schlimmsten Fall mit Gewalt zur Selbstverteidigung.

Ebene 2: Diese Ebene verbindet mich mit den zufälligen Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Menschen an der Kassa beim nächstgelegenen Supermarkt oder den Arbeitskolleg_innen im Team der Firma. Solange niemand persönliche Grenzen überschreitet, sind wir uns grundsätzlich freundlich gesinnt. Wir teilen Smalltalk und Höflichkeiten, um gemeinsam das System zu erhalten.

Ebene 3: Wir finden unsere Körper gegenseitig sexuell attraktiv und sind uns grundsätzlich sympathisch. Solange eine menschliche Grundhygiene und Konsens von allen Beteiligten eingehalten werden, und alle sich freundlich, höflich und fair verhalten, können wir uns gegenseitig ein geiles Erlebnis machen und uns gemeinsam darüber freuen. Mehr Kommunikation als Smalltalk im Sinne der Ebene 2 und Verhandlung über unsere gegenseitigen körperlichen Bedürfnisse ist nicht notwendig.

Diese Ebene hat eine Besonderheit: Sie kann aktiv oder nicht aktiv sein. Beide Varianten können sich für alle Beteiligten gut und passend anfühlen. Allerdings nur, solange der Status der Ebene 3 für beide Seiten geklärt ist: „Kann ich Sex anbahnen – oder nicht?“ Ist sie nicht aktiv, wird sie einfach übersprungen. Das tritt ein, wenn die beteiligten Menschen untereinander sexuell nicht kompatibel sind. Das häufigste Beispiel dafür sind zwei komplett heterosexuelle Frauen, zwei komplett heterosexuelle Männer, oder eine komplett homosexuelle Frau und ein komplett homosexueller Mann, die miteinander bekannt (Ebene 4) oder befreundet (Ebene 5) sind.

Ebene 4 (Bekanntschaft): Mit diesem Menschen habe ich regelmäßigen Kontakt. Wir haben ein oder mehrere gemeinsame Interessen, die wir teilen, wie ein Diskussionsthema, ein Hobby oder ein gemeinsames Projekt. Damit ist kein Projekt im Rahmen eines Unternehmens gemeint, sondern eine Freizeitbeschäftigung, für die wir uns freiwillig entschieden haben. Wenn zwei oder mehr Menschen zusammenarbeiten, um Selbsterfahung zu machen, etwa in einer Selbsterfahrungsgruppe, dient Selbsterfahrung als gemeinsames Interesse. Unsere Bekanntschaft kann, bei gegenseitigem sexuellen Interesse, die Ebene 3 beinhalten. So arbeiten oder diskutieren wir und haben zwischendurch Sex zum Spaß. Beinhaltet unsere Ebene 4 die Ebene 3 nicht, muss das für alle Beteiligten klar sein. Ansonsten stört die ungeklärte Ebene 3 das Verhältnis und lässt Raum für Sekundärmotivationen: Würden wir das Projekt auch noch wollen, wenn eine_r klar sagt, dass kein sexuelles Interesse besteht?

Beispiel für eine Ebene 4 mit ungeklärter Ebene 3:

Wir spielen als Ebene 4-Projekt gemeinsam in einer Band. Eines Abends bekundet mein Gegenüber sexuelles Interesse an mir – ich lehne aber eindeutig ab, weil ich diesen Menschen sexuell nicht kompatibel finde oder gerade in einer Lebenssituation bin, wo das nicht passt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, wie das Gegenüber reagiert:

  • In der Zeit danach wird das Projekt für diesen Menschen weniger interessant. Termine werden verschoben oder kommen nicht zustande. Im Extremfall verläuft das Projekt sogar im Sand. Dies ist ein Zeichen dafür, dass unsere Ebene 4 (Bekanntschaft) nie stabil war. In Wirklichkeit wäre es dem Gegenüber um das Ausleben einer stabilen Ebene 3 gegangen – und nicht mehr: Statt dem Hobby oder Projekt hätte er_sie lieber genussvollen Sex erlebt.
  • Verändert sich die Band als direkte Folge dieser Kommunikation unserer Bedürfnisse nicht, ist eine stabile Ebene 4 (Bekanntschaft) vorhanden. Das, was wir miteinander unternehmen (Musizieren) ist tatsächlich unser beider Hauptinteresse aneinander. Hätten wir zusätzlich Sex miteinander – schön. Haben wir ihn nicht – auch schön.

Ebene 5 (Freundschaft): Mit diesem Menschen habe ich regelmäßigen Kontakt, allerdings meistens häufiger als mit Menschen der Ebene 4 (Bekanntschaft). Wir interessieren uns für die Gefühle und das Innenleben des Gegenübers: Wie sieht und erlebt mein Gegenüber die Welt? Erleidet dieser Mensch einen Rückschlag im Leben, möchte ich für ihn_sie da sein, genauso umgekehrt. Die Ebene 3 und Ebene 4 sind hier optional: Wir können ein gemeinsames Hobby oder Projekt betreiben und parallel Gespräche über unser Innenleben teilen. Genauso können wir zwischen unseren Gesprächen mit oder ohne einem gemeinsamen Projekt Sex zum Spaß haben. Beinhaltet unsere Ebene 5 die Ebene 3 oder die Ebene 4 nicht, muss das für alle Beteiligten klar sein. Ansonsten stören die ungeklärten unteren Ebenen das Verhältnis und lassen Raum für Sekundärmotivationen: Würde mein Gegenüber sich auch noch für meine Sicht auf die Welt interessieren, wenn:

  • ich klar sage, dass ich sexuell nicht interessiert bin?
  • wir kein gemeinsames Projekt mehr miteinander betreiben?
Beispiel für eine Ebene 5 mit ungeklärter Ebene 3:

Wir treffen uns regelmäßig und unterhalten uns über unsere Gedanken und Gefühle – wie es uns (ehrlich) geht, unsere Meinungen über die Welt, usw. Eines Abends bekundet mein Gegenüber sexuelles Interesse an mir – ich lehne aber eindeutig ab, weil ich diesen Menschen sexuell nicht kompatibel finde oder gerade in einer Lebenssituation bin, wo das nicht passt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, wie das Gegenüber reagiert:

  • Auf einmal hat dieser Mensch Ausreden, um sich nicht mit mir zu treffen. Von sich aus meldet er_sie sich seltener als vorher, oder gar nicht mehr. Dies ist ein Zeichen dafür, dass unsere Ebene 5 (Freundschaft) nie stabil war. In Wirklichkeit wäre es dem Gegenüber um das Ausleben einer stabilen Ebene 3 gegangen – und nicht mehr: Statt den Gesprächen hätte er_sie lieber genussvollen Sex erlebt.
  • Verändert sich unser Wunsch nach Kontakt als direkte Folge dieser Kommunikation unserer Bedürfnisse nicht, ist eine stabile Ebene 5 (Freundschaft) vorhanden. Unsere Gespräche sind tatsächlich unser beider Hauptinteresse aneinander. Hätten wir zusätzlich Sex miteinander – schön. Haben wir ihn nicht – auch schön.
Beispiel für eine Ebene 5 mit ungeklärter Ebene 4:

Wir spielen als Ebene 4-Projekt gemeinsam in einer Band. Zusätzlich dazu unterhalten wir uns immer wieder über unsere Gedanken und Gefühle, was einer freundschaftlichen Handlung entspricht. Auf einmal ändert sich aber etwas (z. B. ein anderes Bandmitglied verlässt die Band), wodurch unser gemeinsames Projekt nicht mehr funktioniert. Als Folge davon lösen wir die Band auf. Nun gibt es wieder zwei Möglichkeiten, wie das Gegenüber reagiert:

  • Weil es keine Band mehr gibt, sehen wir uns nicht mehr wie vorher zu den Proben. Allerdings schlagen alle Versuche, uns trotzdem zu treffen oder länger zu telefonieren, fehl: Über unsere Gedanken und Gefühle zu reden fühlt sich nicht mehr passend an – genaugenommen wissen wir nicht mehr, worüber wir nun reden sollen, seit es die Band als Diskussionsthema nicht mehr gibt. Wir haben mit der Zeit immer weniger und schließlich keinen Kontakt mehr. Dies ist ein Zeichen dafür, dass unsere Ebene 5 (Freundschaft) nie stabil war. In Wirklichkeit wäre es dem Gegenüber um das Ausleben einer stabilen Ebene 4 gegangen: ein gemeinsames Projekt – und nicht mehr.
  • Treffen wir uns nach Ende des Projekts hingegen weiter und können uns weiterhin über unsere Gedanken und Gefühle austauschen, ist eine stabile Ebene 5 (Freundschaft) vorhanden. Unsere Gespräche sind tatsächlich unser beider Hauptinteresse aneinander. Hätten wir zusätzlich ein gemeinsames Projekt miteinander – schön. Haben wir es nicht – auch schön.

Ebene 6 (Liebesbeziehung): Das ist die Ebene Liebe. Wir sind ineinander verliebt/lieben uns und wollen so viel wie möglich von unseren Leben miteinander teilen. Dazu gehört Miteinander einschlafen, Kuscheln, füreinander die wichtigsten Bezugspersonen in allen Lebensfragen zu sein, was auch ein gegenseitiges Mitbestimmungsrecht bei Lebensentscheidungen voraussetzt. Mehr dazu unter: Die Ebene 6 auf der Näheskala.