Wie funktioniert eine gesunde Paarbeziehung? – Teil 2/4: Das Energie-Gleichgewicht innerhalb einer Paarbeziehung
Da die Ebene 6 (Liebesbeziehung) die größte Nähe ermöglicht, können der Energieaustausch und seine Konsequenzen anhand einer romantischen Verbindung am anschaulichsten erklärt werden.
Eine Paarbeziehung kann über zwei Wege Energie produzieren:
- Die zwei Menschen des Paares sind frisch verliebt. Solange die Verliebtheit erwidert wird, produziert sie überwiegend Energie. Diese ist sozusagen ein „Energievorschuss“, der dazu gedacht ist, die notwendige Beziehungsarbeit und die damit verbundenen Konflikte am Anfang einer Liebesbeziehung anzutreiben, bis die Beteiligten miteinander eine stabile Ebene Liebe herstellen.
- Das Paar findet Lösungen für die vorhandenen Konflikte und erreicht so eine stabile, energiegebende Ebene Liebe, in der die Gewohnheiten der beteiligten Menschen immer wieder neue energiegebende Verliebtheitsgefühle produzieren.
Eine Paarbeziehung kann jedoch genauso überwiegend energiefressend wirken. Dies liegt entweder (hauptsächlich) an einem der beteiligten Menschen, an beiden gleichermaßen, und/oder an der Struktur der Paarbeziehung selbst.
So können viele Situationen eine Paarbeziehung vorübergehend oder dauerhaft schwieriger machen, wie finanzieller Stress, zeitliche Engpässe, Betreuung von Babys und Kleinkindern, sowie eine längere Krankheit oder ein psychisches Problem, das die Zeit und Energie für Sex, emotionale Nähe (tiefe Gespräche) und/oder romantische Nähe (liebevolle Aufmerksamkeit(en), Kuscheln) einschränkt. Da eine chronisch energiefressende Dynamik erst entsteht, wenn ein instabiler Zwischenzustand auf der Näheskala gegeben ist, sind diese Situationen sicher belastend, aber nicht automatisch energiefressend.
Ein einzelner Mensch kann jedoch eine ganze Paarbeziehung im Alleingang energiefressend machen, wenn er_sie eines der obigen Probleme hat, sich aber gleichzeitig weigert, an diesem Problem konstruktiv zu arbeiten. Stattdessen tut sier so, als gäbe es das Problem nicht, findet fadenscheinige Ausreden, jammert das Gegenüber ständig darüber an oder erwartet/fordert von diesem sogar den Löwenanteil der Arbeit an den eigenen Problemen. Der betreffende Mensch gibt mit diesem Verhalten die eigene Verantwortung ab, einen stabilen, energiegebenden Zustand herzustellen oder zu halten. Auf der Ebene, die dieser Mensch verweigert, kommen dann das notwendige Interesse und die dazugehörigen Handlungen eine Zeit lang fast ausschließlich vom Gegenüber.
Um den Unterschied zwischen beiden Situationen zu verdeutlichen, habe ich eine Parabel erfunden:
Mensch A steckt in einem Schlammloch fest. Mensch B geht vorbei und bleibt stehen: Er möchte Mensch A aus dem Schlamm helfen, und streckt eine Hand aus.
Szenario 1: Mensch A ergreift die Hand, lässt sich ein Stück hochziehen, und beginnt zu strampeln und Boden zu suchen, sobald er seine Füße wieder bewegen kann. Langsam findet er am Rand des Schlammlochs immer wieder Halt und kann sich gemeinsam mit dem Zug von Mensch B aus dem Loch befreien. Beide gehen Hand in Hand weg.
Szenario 2: Mensch A ergreift die Hand, und lässt sich hochziehen, macht jedoch keine Anstalten mitzuarbeiten, und hängt wie ein nasser Sack an der Hand des herausziehenden Menschen. Mensch B hält das Gewicht von Mensch A noch eine Zeit lang, aber bald geht ihm die Puste aus. Um nicht selbst auch noch in das Schlammloch zu fallen, lässt er Mensch A los, welcher direkt in seinen alten Platz zurückplumpst, und sucht sich einen neuen Menschen, der entweder nicht so tief in einem Schlammloch steckt, oder der zumindest bereit ist, beim Herausziehen mitzuarbeiten.
Das Schlammloch steht für eine belastende Situation, und der Mensch, der herausziehen hilft, für eine_n (möglichen) Beziehungspartner_in, dier bereit ist, das Gegenüber bei der Lösung oder zumindest einer Verbesserung zu unterstützen. Im ersten Szenario handelt Mensch A konstruktiv: Sier arbeitet selbst an den eigenen Problemen und/oder sucht sich aus eigenem Antrieb, sobald möglich, professionelle Hilfe. Im zweiten Szenario ist Mensch A hingegen der energiefressende Mensch, der das gesamte Beziehungsleben runterzieht. Mensch A lässt damit Mensch B nur die Wahl, durch das ständige Energieminus (ebenfalls) ein psychisches Problem zu entwickeln, wodurch die Beziehung natürlich noch mehr Energie frisst, oder rechtzeitig abzuspringen – also sich zu trennen.
Manchmal erzeugen allerdings nicht die individuellen Menschen, sondern die Struktur der Paarbeziehung den energiefressenden Zustand. Der Grund dafür können einer oder mehrere der folgenden Punkte sein:
- Es existiert ein darunterliegender ungelöster Konflikt über die gemeinsamen Wünsche.
- Einer_m der Beteiligten fehlt etwas ganz Grundsätzliches: Der Wunsch nach partnerschaftlichem Sex und/oder liebevoller Nähe wird nicht (genug) erfüllt.
- Die Beteiligten haben Werte aus der Poly-Szene übernommen und definieren sich als Nebenbeziehung, eine von vorneherein energiefressende Struktur.
- Die Beziehung basiert auf einer sekundärmotivierten Verliebtheit: Eigentlich hätten sich die Beteiligten nur Sex zum Spaß miteinander gewünscht.
Natürlich ist es auch möglich, dass sowohl die individuellen Menschen, als auch die Struktur der Paarbeziehung zusammen den energiefressenden Zustand hervorbringen. Oft fühlen sich instabile Menschen sogar von instabilen Strukturen angezogen, weil sie mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen in der Kindheit zu wenige stabile Strukturen erlebt haben und diese ihnen daher Angst machen, nach dem Motto:
„Besser das bekannte Unglück, als das unbekannte Glück.“
Diese Paarbeziehungen werden dann aber meistens so schnell so instabil und energiefressend, dass die Beteiligten die Beziehung innerhalb weniger Monate ausgelaugt haben – und dann entweder in einer De-facto-Trennung koexistieren (Ich möchte sogar sagen: kovegetieren) oder sich tatsächlich trennen.
Auch hier spreche ich aus persönlicher Erfahrung: Mein in Was ist eine Nebenbeziehung? erwähnter Hetero-Ex-Freund vereinte alle Gründe der obigen Auflistung in Personalunion – und war von seiner Lebenseinstellung her auch noch ein Energievampir. Er fraß so viel Energie, dass ich mich nach einem Treffen noch tagelang erschöpft und ausgelaugt fühlte. Ich vermutete die Ursache dieser Erschöpftheit allerdings jedes Mal lokal, also in einem anstrengenden Arbeitstag, zu wenig Schlaf, usw. Als ich nach einigen Monaten begriff, dass hauptsächlich er die Ursache dafür war (und die anderen Umstände kaum), und dass ich aus dem falschen Grund eine Beziehung mit ihm begonnen hatte (Punkt 4), trennte ich mich von ihm.