Wie funktioniert gesunde Polyamorie? – Teil 2/4: Ist diese L(i)ebensform etwas für mich?

Der Wunsch nach Polyamorie entsteht in einem betreffenden Menschen, egal ob Single oder in einer aktiven Zweierbeziehung, immer aus einem konkreten Grund. Der Grund dieses Wunsches liegt allerdings oft im Unbewussten. Deshalb kann der Wunsch nach Polyamorie von falschen Ideen, die mit einer gesunden Realität nichts mehr zu tun haben, fehlgeleitet sein. Nach Aufdeckung und Überprüfung dieser Ideen kann darunter ein ganz anderer Wunsch als eine Poly-Beziehung zum Vorschein kommen.

Eine anfängliche Unwissenheit oder Verwirrtheit hinter einem Wunsch nach Polyamorie ist nicht die Schuld des betreffenden Menschen. Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, die diverse Wünsche nach Sex und Liebe abseits des heteronormativen Mainstreams für nicht existent erklärt. Oder um es mit Farin Urlaub zu sagen:

Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist.
Es wär‘ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.

Die Ärzte – Deine Schuld

Es ist aber sehr wohl die Verantwortung eines jeden Menschen, der_die sich Polyamorie wünscht, herauszufinden, was hinter diesem Wunsch tatsächlich der Fall ist.

Beispiele:

„Ich habe seit kurzem entdeckt, dass ich mir mit einem zusätzlichen Menschen eine Liebesbeziehung wünsche, aber die Liebesbeziehung zu meinem gegenwärtigen Menschen dabei weiterführen möchte. Ich will nichts verheimlichen müssen – und Polyamorie klingt gut, da wissen alle voneinander. Kann das funktionieren?“

Jein.

Ob der Wunsch nach einer Liebesbeziehung mit mehr als einem Menschen gleichzeitig gesund gelebt werden kann, hängt nämlich von mehreren Faktoren ab. Manche davon sind sehr gute Voraussetzungen, um Polyamorie zu leben. Andere allerdings sind ein garantierter Schuss ins Knie, der nicht nur keine weitere Liebesbeziehung, sondern den Verlust der bereits vorhandenen Liebesbeziehung bedeuten kann.

Um dieses Risiko einschätzen zu können, ist der erste und wichtigste Schritt, mithilfe der Wozu-Fragenkaskade den eigenen Wunsch zu hinterfragen: Wozu möchte ich eine weitere Liebesbeziehung?

Bei vielen ist darauf die Antwort:

„Weil es mir passiert ist, dass ich mich in einen weiteren Menschen verliebt habe, während ich in einer Liebesbeziehung lebe.“

Jetzt geht die Fragenkaskade aber weiter: Wozu habe ich mich in diesen Menschen verliebt?

Ab hier wird es kompliziert. Denn hinter einer Verliebtheit oder einem „Crush“ verstecken sich oft Sekundärmotivationen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Diese sind der erwähnte Schuss ins Knie.

Wird eine zusätzliche Liebesbeziehung aus einer Sekundärmotivation eingegangen, enden alle beteiligten Liebesbeziehungen höchstwahrscheinlich in einem emotionalen Atompilz. Die zweithöchste Wahrscheinlichkeit ist zwar, dass alle Beteiligten rechtzeitig die Sekundärmotivationen bemerken und auflösen, dieses Szenario ist allerdings immer noch mit viel emotionalem Schmerz verbunden.

Nachfolgend habe ich ein Flowchart gezeichnet, das die häufigsten Sekundärmotivationen hinter einer Verliebtheit aufdeckt und zu Strategien weiterleitet, um diese bewusst zu machen und aufzulösen.
Meistens hat nach der erfolgreichen Durchführung der vorgeschlagenen Lösungsansätze ein neuer Wunsch den ursprünglichen Wunsch nach Polyamorie ersetzt.

In seltenen Fällen steckt hinter einer neuen Verliebtheit tatsächlich eine Primärmotivation für Polyamorie. Diese Fälle werden allerdings erst sichtbar, sobald alle Sekundärmotivationen entweder ausschließbar sind oder gemeinsam mit der bestehenden Liebesbeziehung bearbeitet wurden. Wenn danach noch immer ein Wunsch nach Polyamorie vorhanden ist, handelt es sich höchstwahrscheinlich (aber nicht automatisch!) um eine Primärmotivation.

Bei der Mehrheit der Menschen in der Poly-Szene scheint ein Mangel in Ex-Beziehungen oder der gegenwärtigen Partnerschaft eine wesentliche Rolle dabei zu spielen, warum sie jetzt Polyamorie anstreben. Der Ausgangspunkt ist:

„Wenn mir meine bestehende Beziehung etwas Bestimmtes nicht gibt, das ich brauche, hole ich es mir durch eine Beziehung mit einem anderen Menschen.“

Wenn allerdings das Fundament (= das Ursprungspaar) aufgrund eines Mangels nicht stabil ist, können es auch alle Beziehungen, die an diesen Menschen dranhängen, nicht sein. Diese Gruppendynamik beschreibe ich unter New relationship energy oder: Das Energie-Gleichgewicht zwischen Paaren in einem Polykül.

Daher startet mein Flowchart bei einem Mangel und leitet daraus zu den jeweiligen Sekundärmotivationen weiter: