Die Poly-Szene – Teil 3/5: Rape Culture innerhalb der Szene

Die Unterdrückung und Abwertung der Ebene Lust an sich (Ablehnung von Swinger_innen, die gemeinsamen Punkte der monogamen und polyamoren Lüge) trifft also auf eine weit offene Ebene Liebe (romantisch offenes Sozialverhalten, Kuschelhaufen). Die Ebene Lust kann also wieder einmal nur durch die Öffnung der Ebene Liebe freigeschalten werden. Das setzt die Einzementierung der patriarchalen Lüge in Gang und produziert in weiterer Folge eine eigene Rape Culture (!).

Hinter ihren Glaubenssätzen läuft die Poly-Szene nämlich folgendermaßen:

Menschen in der Rolle „Frau“, vorrangig Frauen, aber auch Männer und weitere Geschlechter, betreten die Szene, da sie von den Behauptungen über die Ebene Liebe mit mehr als einem Menschen angezogen werden.

Dort warten allerdings schon Menschen in der Rolle „Mann“, vorrangig Männer, die diesen im Vergleich zum Mainstream noch verstärkten Glauben an die Ebene Liebe von Menschen in der Rolle „Frau“ ausnutzen. Das Spielchen ist ein Klassiker des Patriarchats: Der Mann täuscht nicht vorhandene Zuneigung vor, und bekommt dafür von der Frau Aufmerksamkeit und Sex. Er hatte jedoch nie vor, dabei auf die Bedürfnisse der Frau Rücksicht zu nehmen. Hauptsache, er „hatte“ sie, und kann sich jetzt unter seinesgleichen gut vorkommen.

Ein Pärchen oder Polykül besucht also gemeinsam eine Poly-Veranstaltung. Nun gehen alle Anwesenden davon aus, dass alle Beteiligten romantisch offen und außerdem jetzt gerade auf der Suche sind.

Diverse Veranstaltungen der Poly-Szene werben damit, eine Anlaufstelle für Neulinge beim Thema Polyamorie zu sein. Da die allermeisten Paare im Mainstream geschlossen sind, sind das üblicherweise auch diejenigen, die sich eine Poly-Veranstaltung „mal anschauen kommen“. Davon abgesehen gibt es aber auch viele Poly-Konstellationen, die einseitig oder ganz geschlossen sind. Niemand denkt daran, dass ein Pärchen oder Polykül nur unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Handlungen offen sein könnte.

Diese Situation könnte einfach, schnell und fair geklärt werden, und zwar indem ein interessierter Mensch erst mal nachfragt, bevor er, sie oder sier jemanden anbaggert.

Aber das passiert aufgrund der obigen Annahme natürlich nicht. Ist ein Mensch an einem_r der Neuankömmlinge interessiert, fängt er_sie sofort an, die gewünschte Person anzuflirten. Die Beziehung(en) dieser Person werden dabei bestenfalls ignoriert, üblicherweise jedoch durch Mikroaggressionen und Manöver auf die Seite geschoben.

Beispiele:

Mensch A und Mensch B sind als Paar in die Szene gekommen. Mensch C interessiert sich für Mensch B, und beginnt mit diesem ein Gespräch. Dabei begrüßt Mensch C das Flirtziel Mensch B überschwänglich, ignoriert jedoch dessen Partner_in Mensch A, indem er_sie Mensch A gar nicht erst begrüßt, oder zwar begrüßt, aber dann im Gespräch nicht mehr ansieht oder anspricht. Wenn Mensch A trotzdem am Gespräch teilzunehmen versucht, wird er_sie meistens mitten im Satz unterbrochen – von Mensch C oder Zuhörer_innen.

Nach einigen Minuten Gespräch beginnen dann die typischen Manöver: Mensch C stellt oder setzt sich so, dass kein Sichtkontakt zwischen Mensch A und Mensch B mehr möglich ist. Wenn Mensch A auf der Suche nach einem Getränk oder einem besseren Gespräch weggeht, steht Mensch C auf dessen Platz. Mensch C geht auch dann nicht mehr weg, sobald Mensch A zurückkommt. Meistens bekommt Mensch B diese Blockade nicht mit, da ja der Sichtkontakt unterbrochen wurde. Dabei können die Verhaltenweisen von Mensch C vom selben Menschen, aber auch von mehreren Personen ausgehen, die alle gleichzeitig oder abwechselnd Mensch B anflirten.

Wenig überraschend ist Mensch B meistens eine hübsche, junge Frau, Mensch A ihre mitgebrachte Hetero-Beziehung, und Mensch C ein oder mehrere Männer, die sich ein Stück vom Kuchen holen wollen.

Queer?

Seltener sind Mensch A und Mensch B aber auch ein lesbisches Paar, und Mensch C ein oder mehrere Männer. In diesem Fall flirten mehrere Männer jede Frau an, und drängen die beiden Frauen mit denselben Manövern auseinander. Dadurch werden aus einem Paar zwei separate Aufrissgelegenheiten. Ich vermute, dass diese heteronormative Zwangsbeglückung ein maßgeblicher Auslöser für die Abspaltung von eigenen queeren FLINT-Poly-Treffen war, wo Hetero-Männer keinen Zutritt haben.

Ein (sichtbares) schwules Paar habe ich in der Poly-Szene hingegen nie getroffen. Ich vermute, dass Männer, die um Frauen aggressiv konkurrieren, so handeln, um ihre „Männlichkeit“ (= Heterosexualität und Dominanz) zu beweisen. Schwules Begehren passt nicht in dieses Bild, weshalb solche Männer Schwulen mit Ablehnung begegnen. Schwule Männer fühlen sich dann auf Poly-Veranstaltungen zu recht unwohl, und gehen lieber woanders fort. Dazu trägt bei, dass die schwule Szene die älteste unter den alternativen Szenen ist, und daher bereits genug Möglichkeiten bietet.

All dies führt dazu, dass – obwohl die Poly-Szene ständig über mehrfache Beziehungsanbahnung redet – keine Polyküle und nur wenige Paare auf Poly-Treffen zu finden sind. Verständlicherweise will sich kaum ein Paar oder Beziehungsgeflecht dieser sozialen Situation (öfter) aussetzen.

Verstärkt sich diese Dynamik noch mehr, ergeben sich übergriffige Menschen in der Rolle „Mann“, die Menschen in der Rolle „Frau“ ganz grundsätzlich als Sexualobjekte ohne eigenen Willen ansprechen. Diese versuchen dann durch diverse Spielchen, den Konsens des Gegenübers zu umgehen. Leider sind solche Manöver selten direkt zu beobachten.sondern passieren eher als latente Übergriffigkeit:

Konsens? Bla!

Im Fall von mehreren interessierten Menschen, meistens Männern, umstellen diese die Frau oftmals so, dass sie keine großartige Möglichkeit hat, Berührungen auszuweichen. Wenn sie weggehen möchte, muss sie wiederholt einfordern, aus dem Kreis gelassen zu werden, damit mal jemand Platz macht. Ich sage bewusst fordern, denn nur eine lautstarke, ärgerliche Ansage schafft Platz. Bei höflichen Bitten oder Ankündigungen („Ich hol‘ mir was zu trinken!“) rühren sich die betreffenden Männer keinen Millimeter.

Genauso läuft es bei Berührungen ab: Eine Frau, die höflich mitteilt, wie oder wo sie nicht berührt werden möchte, oder dass sie an jemandem nicht interessiert ist, kann als Reaktion nicht nur mit einem extrem beleidigten Mann rechnen, sondern dass derselbe Mann die gleiche Berührung / das gleiche Manöver entweder etwas später am Abend, oder einfach bei der nächsten Poly-Veranstaltung wieder macht, als hätte sie nie etwas gesagt.

Dieselben Männer blockieren auch gerne Durchgänge, um Frauen abzupassen, und so ins Gespräch zu kommen. Manche lauern ständig an Engpässen am Weg zur Bar oder zur Toilette. Andere stellen sich sogar extra in den Weg, sobald sie sehen, dass eine angepeilte Frau in ihre Richtung geht. Die Frau muss sich dann entweder vorbeiquetschen, oder ebenfalls wieder lautstark und ärgerlich Durchgang verlangen. Kurz bevor ich die Szene verließ, hatte ich sogar begonnen, meinen Schritt extra zu beschleunigen. Ich nahm dabei absichtlich in Kauf, den betreffenden Mann umzurennen, was sofort Wirkung zeigte, denn jeder Abpasser sprang mir aus dem Weg.

Diese Umgangsformen habe ich selbst erlebt und bei Anderen auf beinahe jeder Poly-Veranstaltung beobachtet. Sie sind eine klare Umgehung der Konsenskultur und damit eine Form von Rape Culture.

Ständige romantische Offenheit begünstigt also Übergriffigkeiten. Warum also fordert die Poly-Szene so unbedingt romantische Offenheit?

Wie ich feststellen musste, liegt die Antwort bereits in der Frage: Weil junge, tolerante Frauen in der Rolle „Frau“ dadurch für Arschlöcher in der Rolle „Mann“ reihenweise als leichte Beute für Aufmerksamkeit und Sex ohne Gegenleistung bereitstehen. Einen anderen Grund hat die Forderung tatsächlich nicht!

In der Realität kann keine Liebesbeziehung, weder eine einzelne, und schon gar nicht mehrere gleichzeitig (und ich weiß das aus Erfahrung!), schön und energiegebend bleiben, wenn sie romantisch offen bleibt. Wie soll da Vertrauen, gemeinsamer Alltag, ja Liebe entstehen, wenn der bestehende Platz für tiefe Nähe jederzeit massiv reduziert werden kann? Jede neue, angehängte Beziehung reduziert automatisch die Ressourcen, welche die Nähe des Ursprungspaares oder -polyküls aufrecht erhalten. Die Nähe wird daher mit jedem zusätzlichen Menschen weniger, und irgendwann bleiben frustrierte Beziehungen übrig, die hauptsächlich energiefressende Dynamiken produzieren.

Die Einforderung einer dauerhaften romantischen Offenheit sorgt dabei dafür, dass:

  • möglichst viele Frauen gleichzeitig romantisch „verfügbar“ sind,
  • Beziehung(en) schnell energiefressend werden, wodurch die betroffenen Frauen unglücklich und einfach zu manipulieren sind,
  • Frauen durch ständig schiefgehende Beziehungen immer wieder in die Poly-Szene zurückkommen, um für die nächsten Trophäensammler verfügbar zu sein.

Diese Tatsache wird durch mehrere Glaubenssätze verschleiert, welche ich Herzgespinste nenne, und in einer eigenen Artikelreihe genauer durchleuchte.