Was ist Polyamorie?

Obwohl sie immer wieder in diesem Zusammenhang genannt wird, bezeichnet Polyamorie keine alternative Sexualität, sondern ein alternatives Modell über romantische Beziehungen. Die Adjektive sind polyamor, polyamourös oder (abgekürzt) poly. Sprachlich besteht das Wort aus poly (= altgriech. mehr als eins, viele) und amor (= lat. Liebe). Die zentrale Definition lautet:

  1. Polyamorie ist der Wunsch nach Verliebtheit/romantischer Beziehung/Liebe mit mehr als einem Menschen gleichzeitig,
  2. wobei alle Beteiligten von der gegenseitigen Existenz wissen,
  3. und diese im Konsens leben.

Der Lebensentwurf benötigt von vorneherein mehr Zeit, Energie und emotionale Arbeit als eine geschlossene Liebesbeziehung zu zweit, ganz einfach weil sich mehr als zwei Menschen regelmäßig auf gemeinsame Dinge einigen müssen. Außerdem gibt es in Mehrfachbeziehungen Fragen und Problemstellungen, die zu zweit gar nicht vorkommen, z. B. „Wer liegt in der Mitte?“ oder „Könntest du zwischen uns vermitteln?“.

Da unsere bisherige Sprache für Polyamorie keine Bilder hat, braucht es für diese Art von Beziehung neue Begriffe. Die Vorlage des Mainstreams ist, dass eine Liebesbeziehung aus zwei Menschen besteht: Für Bekannte und Freunde gibt es unbestimmte Mehrzahlworte (etwa Freundeskreis), die Begriffe Zweierbeziehung, Paar und Pärchen weisen hingegen auf die Zahl Zwei hin (ein Paar Schuhe = zwei Schuhe).

Polyamorie braucht hingegen mehr als eine Liebesbeziehung. Um solche zusammenhängenden Beziehungen zu benennen, wurde aus der Chemie das Molekül entlehnt: Aus polyamory und molecule entstand polycule. Dessen deutsche Übersetzung ist analog dazu Polykül.

Sobald mehr als zwei Menschen auf der Ebene Liebe verbunden sind, steigt auch die Komplexität – und zwar mit jedem weiteren Menschen um einen bestimmten Faktor. Der Vergleich mit einem Molekül ist daher nicht nur sprachlich passend: Ebenso wie in der Chemie alles auf die nächste stabile Einheit mit dem geringsten Aufwand zurückfällt, orientieren sich Polyküle an der geringsten Komplexität. Daher bilden sich die häufigsten längerfristig stabilen Polyküle aus der Mindestanzahl von drei Menschen.

Die häufigsten Polykülformen

Nachfolgend stehen die Buchstaben für die beteiligten Menschen und die Linien mit Herz für das Vorhandensein einer Liebesbeziehung.

Polyküle aus drei Menschen

Ein Polykül zu dritt kann in zwei verschiedenen Varianten auftreten, welche nach ihrer sichtbaren Struktur benannt sind.

Eine Triade

Eine Triade oder poly triad bezeichnet ein geschlossenes Dreieck mit den jeweiligen Liebesbeziehungen A+B, B+C, A+C. Ein weiterer Begriff ist throuple, eine Kombination von three (= engl. drei) und couple (= engl. Paar), welcher betont, dass es sich um drei zusammenhängende Paare handelt.

Ich, die Verfasserin dieses Blogs, bin biamor und lebe selbst polyamor: Ich habe eine Lebensgefährtin und einen Lebensgefährten, die beide ebenfalls ein Pärchen sind. Zusammen bilden wir eine romantisch geschlossene Triade (= Wir sind drei Menschen, und wir wünschen uns alle keine weiteren Liebesbeziehungen).

Ein V-Polykül

Ein V oder vee enthält Liebesbeziehungen zwischen A+B, B+C, aber nicht A+C. Für das Verhältnis zwischen Mensch A und Mensch C wurde der Begriff metamour erfunden: über die Meta-Ebene (lateinisch meta = zwischen) eines geliebten Menschen (französisch amour = romantische Liebe, geliebter Mensch) verbundene Menschen. Welche Nähe die Metamours zueinander haben, ist bis auf die Abwesenheit einer romantischen Beziehung nicht definiert und unterscheidet sich im Einzelfall: Das Spektrum reicht von der besten Freundschaft bis zu sich kaum zu kennen.

Polyküle aus vier Menschen

Ein Polykül aus vier Personen wird in der amerikanischen Poly-Szene square, also Quadrat genannt, wobei nicht alle Verbindungen des Quadrats romantische Beziehungen sein müssen, sondern auch Metamours enthalten können. Entscheidend für die Benennung des Polyküls ist die sichtbare Struktur aus den romantischen Beziehungen.

Die häufigste Variante ist das N, bei dem es drei Beziehungen in einer Reihe, sowie drei Metamours gibt.

Ein N-Polykül

Für andere Konstellationen sind mir keine speziellen Begriffe bekannt. Da viele Polyamorie-Interessierte Akademiker_innen sind, hat sich allerdings die Konvention entwickelt, Polyküle wie in wissenschaftlicher Notation mit einem „eckigen“ Buchstaben im lateinischen oder griechischen Alphabet zu benennen.

Formen

Ansonsten gibt es keinen einheitlichen Weg, Polyamorie zu leben, was allerdings nicht heißt, dass alle Arten von Polyamorie funktionieren, also dauerhaft energiegebende, liebevolle Beziehungen hervorbringen. Einige Strategien produzieren sogar nie mehr als parallele Kurzzeitbeziehungen.

Neuere Sichtweisen auf Polyamorie berücksichtigen diese Konsequenz, so definiert etwa der Polyamorie-Forscher Stefan Ossmann genauer:

Polyamorie ist eine konsensuale Beziehung zwischen mehr als zwei Personen, basierend auf emotionaler Liebe und intimen Praktiken über einen längeren Zeitraum hinweg.

Ossmann, Stefan. F. (2020). Introducing the new kind on the block: Polyamory. In Z. Davy, A. C. Santos, C. Bertone, R. Thoreson, S. Wieringa (Eds.), Handbook of Global Sexualities (Vol. 1, pp. 363-385).