Die Poly-Szene – Teil 5/5: Wege aus der Krise oder: Wie die Szene reformiert werden könnte

1. Die Partnerbörse sichtbar machen

Alle Veranstaltungen der Poly-Szene, während denen Menschen locker zusammenstehen / sitzen (können) als Partnerbörsen kennzeichnen. Das betrifft Themen-Stammtische, Treffen, Unternehmungen, und lose gestaltete Workshops. Einzig durchstrukturierte Workshops haben mangels Gelegenheit zum „Mingeln“ keine versteckte Partnerbörse laufen, und wären daher von dieser Notwendigkeit ausgenommen.

Zweck:

Um damit die Intention die meisten Teilnehmer_innen transparent zu machen, und dadurch Hintenrum-Spielchen zu erschweren, etwa dass freundschaftliches Interesse vorgetäuscht wird, wenn es eigentlich um einen Aufriss oder ein romantisches Interesse geht.

Umsetzung:

In die Vorankündigung, die Facebook-Veranstaltung, auf die Website, usw. einen Hinweis schreiben:

„Die Veranstaltung wird vor allem als Partnerbörse genutzt.“

u. Ä.

Dies wäre auch für andere Veranstaltungen nützlich, welche zwar kein offizielles Poly-Event sind, oder „Poly“ im Titel tragen, wo aber meistens eine Mehrheit an poly-lebenden oder an Polyamorie interessierten Menschen anzutreffen ist. Ohne regulierende Maßnahmen verhalten sich solche Menschen nämlich wie auf einer offiziellen Poly-Veranstaltung, und bringen so die versteckte Partnerbörse, sowie deren toxische Dynamiken (Lovebombing, etc.) unbewusst mit.

2. Verhaltensregeln (als Minimal-Konsens) für erotische und romantische Kontaktaufnahmen einführen

Wer ausgesprochene und unausgesprochene Verhaltensregeln aufhebt, aber gleichzeitig keine neuen Regeln schafft und einfordert, produziert einen unsicheren Raum, in dem sich schüchterne Menschen aus Angst vor Strafe nichts probieren trauen, sowie übergriffige Menschen einfach alles probieren, was ihnen gerade nützlich erscheint. Ohne klare Regeln und Zuständigkeiten setzen sich in einem solchen Machtvakuum letztendlich die rücksichtslosesten Menschen (auf der Distanzskala: Bitches, Traumprinzen, sowie Missbrauchstäter_innen) durch.

Dieses Problem hat jede alternative Szene, die andere Werte und Verhaltensweisen als der Mainstream etablieren will. Die Poly-Szene produziert diese Dynamik, indem sie die Verhaltensregeln der monogamen Anbahnung abschafft, ohne jedoch klare Verhaltensregeln für die neue, polyamore Art der Anbahnung aufzustellen.

Jeder sichere Raum (engl. safe space) bietet daher nicht nur einen eigenen Aufenthaltsort abseits des Mainstreams, sondern auch eindeutig verständliche Verhaltensregeln, sowie Menschen, die diese vorleben, erklären, einfordern, und welche außerdem übergriffige Menschen, die sich wiederholt entgegen den Regeln verhalten, dem Raum verweisen.

Zweck:

Um Rape Culture zu verhindern, und stattdessen einen fairen und freundlichen Umgang der Besucher_innen untereinander herzustellen, der bei Abweichung mit Verweis auf die Verhaltensregeln konkret einforderbar ist.

Umsetzung:

Aufgrund der romantischen Offenheit wären für einen Poly-Raum die folgenden Zugänge am wichtigsten:

  • Vorhandene Beziehungen sind zu respektieren. Wenn jemand ein sexuelles oder romantisches Interesse an einer Person hat, ist es die Aufgabe der anbahnenden Person (!), anwesende Beziehungspartner_innen zu berücksichtigen.
  • Menschen, die für mehrere Menschen sexuell oder romantisch interessant sind (meistens junge Frauen) sollten nicht „eingekesselt“, und bedrängt werden. Eine (erste) Kontaktaufnahme sollte immer so passieren, dass sie auch im öffentlichen Raum ok wäre.

Vorbild dazu könnten von der Art her z. B. die Umgangsformen diverser Swingerclubs sein, die jahrzehntelange Erfahrung mit ähnlichen Dynamiken haben, und daher üblicherweise auf ihren Websites oder auf Veranstaltungen ihre Verhaltensregeln zentral veröffentlicht haben. Dieselben Richtlinien sind gut auf romantische Kontaktaufnahmen anwendbar.

Hier ein Auszug aus den Regeln des Swingerclubs Hollywood in Wien:

  • Sei immer höflich
  • Vermute nie
  • Bevor Du jemand berührst, bitte um Erlaubnis
  • „Nein“ bedeutet „Nein“. Nimm es würdevoll an.
  • Niemand gefällt jedem. Denke nie das Du mehr weißt was sie will, als sie selbst. Wenn sie oder ihr Partner „Nein“ sagt, dann ist das genau das, was es bedeutet, frage nicht „warum“.
  • Die meisten Leute haben einen Partner, binde sie in Dein Gespräch ein sofern es passt.

Quelle: Swingerclub Hollywood (2016) Regeln und Verhalten für Männer [Online]. Verfügbar auf http://paerchenclub.at/index.php/regeln-und-verhalten-fuer-maenner.html (Abgerufen am 15. September 2016).

Wenn die Poly-Veranstaltung an einem Ort stattfindet, wo auch Sex möglich ist, sind einige Richtlinien für die Anbahnung von sexuellen Situationen sogar zwingend notwendig, weil eben nicht alle Menschen für alles und jede_n offen sind, und schöne Erlebnisse für alle Beteiligten (!) nur innerhalb gewisser Grenzen (Konsens!) und Sicherheiten (Fairness) möglich werden.

Dies kann auch auf eine kreative Art und Weise passieren: Kurz-Workshops mit Beispielsituationen, Do’s und Don’ts in der Praxis vorzeigen, Situationen unter Anleitung üben, oder Impro-Theater.

Im Regelbetrieb bei zu vielen Verstößen Leute verwarnen / rauswerfen.

3) Auf allen Veranstaltungen, die Partnerbörsen-Aspekte haben, Signal-Armbänder tragen

Dieser Ansatz basiert auf einem System, das durch US-College-Partys bekannt wurde: Jede_r trägt zwei Armbänder (eins links, eins rechts), die einem Farbcode folgen. Wer keine Armbänder tragen will, bekommt keinen Zutritt zur Veranstaltung.

Zweck:

Um Intentionen transparent zu machen, und unfaire Spielchen durch Vorspielen falscher Interessen zu unterbinden. Ein angenehmer Nebeneffekt wäre auch, dass Besucher_innen angeregt werden, ihre eigenen Intentionen zu hinterfragen: Was will ich eigentlich hier, von wem und wozu? Diese Erfahrungen könnten dann sogar in einer anschließenden Selbsterfahrungsgruppe reflektiert werden.

Umsetzung:

Linkes Armband = sexuelles Interesse
Rechtes Armband = romantisches Interesse

Hinter der Zuordnung von links und rechts steht die Überlegung, dass die meisten Menschen Rechtshänder sind, und daher als Erstes nach rechts schauen, also auf die linke Hand eines Gegenübers. Links zeigt das sexuelle Interesse, weil dieses zentral entscheidet, was an diesem Abend oder in der folgenden Nacht (nicht) passieren wird.

Links:

  • Rot = No touchy, nur plaudern: Ich will hier einen netten Abend mit Gesprächen verbringen.
  • Blau = Berührungen erwünscht: Ich will angezogen ein bisschen herumspielen, und erotischen Körperkontakt.
  • Gelb = Petting: Ich will mich halb ausziehen, massieren oder massiert werden, oder Fummeln, aber nicht eindeutig Sex.
  • Grün = Ich bin vielem offen: Ich will mich untenrum ausziehen, Sex haben, und was sonst noch Spaß macht.

Rechts:

  • Rot = Ich suche keine (weitere) Beziehung: Nein. Lass es einfach.
  • Blau = Anbahnung möglich: Suche hauptsächlich Freundschaften, aber wenn jemand Passendes auftaucht, warum nicht.
  • Gelb = Anbahnung erwünscht: Ich wünsche mir eine Beziehung, aber sei bitte du der_die Aktive.
  • Grün = Suche aktiv: Ich wünsche mir eine (weitere) Beziehung und bin zur Partnersuche hier.

Armbänder signalisieren die grundsätzliche Interessenslage und ersetzen natürlich keine Konsensverhandlung mit einzelnen Menschen: ablehnende nonverbale Signale, „Vielleicht“ und „Nein“ heißen „Nein“ – egal welche Farbe das Armband hat! Spielarten wie Vanilla oder BDSM müssen genauso extra verhandelt werden.

Armbänder können im Laufe des Abends je nach Interesse nachjustiert werden.

Damit sich Menschen, deren sexuelles und / oder romantisches Interesse lesbisch / schwul oder bi / pan ist, wahrgenommen fühlen und nicht hinter den überwiegenden Hetero-Kontaktaufnahmen verschwinden, könnten diese ein weiteres Armband mit einem sichtbaren Regenbogen, oder die Bi-Farben tragen.

Um auch hier in sexuelles und romantisches Interesse zu trennen, könnten alle Personen zwei Armbänder für jede Hand bekommen.

Erstes Armband: obige Einteilung

Zweites Armband:

  • Weiß = Suche ausschließlich hetero
  • Regenbogen = Suche ausschließlich lesbisch / schwul
  • Bi-Farben = Suche bi / offen für alle Geschlechter

Wenn ein Armband rot ist, muss kein weiteres Armband zusätzlich getragen werden: Für platonische Gespräche ist die sexuelle oder romantische Orientierung schließlich egal. Wer trotzdem unbedingt die eigene sexuelle oder romantische Orientierung zeigen will, hat gleich eine gute Gelegenheit, die eigenen Wünsche zu hinterfragen.

Ein Mann, der Sex mit Männern und Frauen aufgeschlossen ist, aber sich eine romantische Beziehung nur mit einer Frau vorstellen kann (heteroamor und bisexuell), könnte dann etwa folgende Armbänder bekommen:

Links:

  • Erstes Armband: Grün (Sex haben)
  • Zweites Armband: Bi-Farben (mit allen Geschlechtern)

Rechts:

  • Erstes Armband: Gelb (Beziehung ja, aber ich bin schüchtern – mach du den ersten Schritt)
  • Zweites Armband: Weiß (Hetero, mit einer Frau)

Wer sich klar gegen sein Armband verhält, kann darauf angesprochen werden, einen Armbandtausch angeboten bekommen, und im Notfall verwarnt, oder nach mehreren Verstößen rausgeworfen werden.

Natürlich nicht:

“Hey, ich stör dich mal kurz beim Sex, magst du nicht dein rotes Armband weggeben?”

 

Sondern:

“Wir haben mitbekommen, dass du heute Sex hattest. Wenn du nochmal herkommst, trag bitte ein gelbes oder grünes Armband und kein rotes. Das ist nämlich sonst den anderen Besucher_innen gegenüber unfair, weil du nicht ehrlich bist. Und Grün heißt übrigens nicht “Lizenz zum Grabschen für alle”. Sollte dich jemand so behandeln, sag uns das bitte und wir schmeißen den / die dann raus!”

4) Mehrere erfahrene Menschen zum Raum überblicken einteilen

Auf jeder Poly-Veranstaltung sollte es mehrere Menschen geben, deren ausschließliche Zuständigkeit das Überblicken des Raumes, sowie das Ahnden von Regelverstößen ist.

Zweck:

Da Poly-Veranstaltungen offen für Neulinge sind, und meistens sogar hauptsächlich aus unerfahrenen Menschen, sowie völligen Neulingen bestehen, braucht es erfahrene Menschen, welche die Verhaltensregeln aufstellen, vorleben, erklären, einfordern, sowie übergriffige Menschen verwarnen, und diese nach mehreren Verwarnungen, oder einem schweren Verstoß, z. B. Grabschen, dem Raum verweisen. Sobald ein Raum aus überwiegend erfahrenen Menschen besteht, welche die Verhaltensregeln ganz selbstverständlich anwenden und gegenseitig einfordern, fällt die Notwendigkeit von extra zuständigen Menschen weg.

Während meines Jahres in der Poly-Szene Wiens gab es auf einigen Poly-Veranstaltungen zwar Menschen, die sich laut eigener Aussage für den Raum zuständig fühlten – meistens die Organisator_innen der jeweiligen Veranstaltung. Das wurde jedoch gegenüber Neulingen überhaupt nicht kommuniziert – im Gegenteil, ich erfuhr erst im Laufe von mehreren Veranstaltungen über Nebenbemerkungen, dass es überhaupt eine Ansprechperson für soziale Probleme gab. Diese „Ansprechpersonen“ verbrachten dann allerdings den Abend de facto unansprechbar in einer Ecke, ständig umgeben von einer Menschentraube (aus Freund_innen oder anderen Menschen, die sich das Wohlwollen der Organisator_innen sichern wollten), oder verschwanden zu später Stunde selbst mit einem Aufriss.

Umsetzung:

Als Ansprechpersonen sollten immer mehrere Personen gleichzeitig zuständig sein, damit sie einerseits das ganze Lokal überblicken, andererseits auch mal aufs Klo oder kurz quatschen gehen können. Die zuständigen Menschen gehen immer wieder durch den Raum, und besprechen sich zwischendurch. Am besten mit T-Shirt oder Schild, damit Neulinge diese bei Unklarheiten gleich finden und ansprechen können. Bei Situationen, in denen sich ein Mensch sichtlich unwohl fühlt, kommt jemand vom Team von selbst nachschauen, und spricht die Beteiligten aktiv an: „Hey, alles ok bei dir?“, usw.

Sobald sich ein Mensch gegen die Regeln verhalten hat, nimmt eine_r vom Team diesen Menschen zur Seite und erklärt die Situation. Wer das eigene Fehlverhalten nicht einsieht, oder zwar Einsicht vortäuscht, aber dann weitermacht wie zuvor, wird für alle umstehenden Menschen gut wahrnehmbar verwarnt, und nach einer gewissen Anzahl an Verwarnungen (Gelbe Karte und rote Karte, drei Striche, etc.) je nach Schweregrad der Handlung entweder aus der Veranstaltung geschmissen, oder erhält temporär oder gänzlich Lokalverbot.