Im Mainstream – Teil 3/6: Die monogame Lüge oder: Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß
Die monogame Lüge ist im Wesentlichen eine Ableitung der patriarchalen Lüge der Rolle „Frau“, mit dem Unterschied, dass es nun keine gegenteilige Rolle (wie die Rolle „Mann“) mehr gibt. Dieses Lügenkonstrukt kann von allen Geschlechtern vertreten werden, egal ob Frau, Mann, oder weiteres Geschlecht.
Die monogame Lüge besteht wiederum aus vier Lügen und behauptet:
- Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
- Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
- Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
- Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, sich in jemand Anderen zu verlieben.
In allen patriarchalen Gesellschaften fördern die meisten Menschen die monogame Lüge, entweder indem sie fest daran glauben, und sich alle Widersprüche wegerklären, oder sie zumindest nach außen aufrechterhalten, während „unter der Bettdecke“, im Puff, etc. ganz andere Dinge passieren.
Das Bedürfnis nach Sex ist eines der stärksten Kräfte im Menschen und lässt sich nicht ohne Konsequenzen unterdrücken. Wird nun das sexuelle Bedürfnis auf der Ebene Lust nur gemeinsam mit der Ebene Liebe, also laut der monogamen Lüge mit einem einzigen Menschen, zugelassen, bleibt immer ein signifikanter Teil dieses Bedürfnisses unbefriedigt. Da Energie nicht einfach verschwindet, sondern immer nur den Wirkungsort wechselt, muss diese unterdrückte Energie irgendwo hin; also steigt der Druck im Unbewussten, bis sich das Bedürfnis irgendwann Bahn bricht.
Kurzfristig geschieht das in spontanen sexuellen Begegnungen, die erst dann passieren, wenn alle Beteiligten genug enthemmende Drogen (wie Alkohol) genommen haben, damit die Hemmschwelle sinkt und das unterdrückte Bedürfnis nicht mehr so viele Hindernisse bis ins Außen überwinden muss. Um die vorhandene falsche Idee nicht in Frage stellen zu müssen, und damit gegen die Mehrheit der Menschheit anzutreten, geschehen diese Ausbrüche heimlich, oder werden zumindest danach so gut wie möglich verheimlicht.
Mittelfristig werden verheimlichte sexuelle Affären angestrebt und gelebt, die natürlich abseits vom Sex mit der Liebesbeziehung stattfinden. Sobald jemand jedoch eine Geschichte über eine heimliche Affäre erwähnt, oder das Thema als Elefant im Raum steht, haben die Personen, die schon einmal heimlich Sex während einer sexuell geschlossenen Liebesbeziehung hatten, schnell Rechtfertigungen für ihr Verhalten anzubieten: Der heimliche Sex fand dann angeblich statt, um
- sexuelle Spielarten auszuleben, von denen sie glauben (aber nie gefragt haben), dass der Partner / die Partnerin diese nicht antörnend findet oder als Ganzes ablehnt.
- sich eine „Wellness-Behandlung“ oder eine „Belohnung“ zu gönnen, die sie aufgrund irgendwelcher Aufwände oder Aufopferungen in der Beziehung verdient hätten.
- sich am Beziehungspartner für einen empfundenen Mangel an emotionaler Aufmerksamkeit zu rächen.
Interessant ist dabei, dass es in diesen Rechtfertigungen nie um den Menschen geht, mit dem oder der der heimliche Sex stattgefunden hat, sondern immer um die zentralen emotionalen Probleme innerhalb der Beziehung: Den Unwillen, dem Partner einmal richtig zuzuhören, oder in Ruhe nach Bedürfnissen zu fragen, und/oder den Unwillen, selbst potentiell ungewöhnliche Bedürfnisse anzusprechen.
Die Notwendigkeit für die Geheimhaltung findet sich daher nicht in den Aussagen der Rechtfertigungen, sondern im Wunsch, Konflikte zu vermeiden – hauptsächlich mit dem eigenen Beziehungspartner, aber auch mit dem (patriarchalen) sozialen Umfeld, wo die meisten Menschen die gleichen Probleme sowie den gleichen Unwillen haben, diese zu konfrontieren. Das ist der wahre Ursprung des Wortes „Betrügen“ für heimlichen Sex außerhalb einer sexuell geschlossenen Liebesbeziehung: Die Person, die ein heimliches Erlebnis oder eine Affäre hat, kann ihr sexuelles Bedürfnis auf der Ebene Lust (mehr) ausleben, was Konflikte offenlegen würde, während dieselbe Person sich weiterhin öffentlich als sexuell geschlossen präsentiert, und damit falschen Frieden und Toleranz sowohl mit dem eigenen Beziehungspartner, als auch im größeren sozialen Umfeld erlebt.
Wer dieses Verhalten für eine kluge Strategie hält, lässt sich ziemlich täuschen. Während die gesamte Situation so aussieht, als ob die Konflikte umgehbar sind, und so niemals bearbeitet werden müssten, unterdrücken die betroffenen Personen die Konflikte lediglich. Da der Zweck einer Liebesbeziehung ist, sich zu lieben und sich umeinander zu kümmern, also ein gemeinsames Leben im größten Ausmaß zu teilen, hat der_die Beziehungspartner_in das Recht, an allen Entscheidungen teilzunehmen, die die gemeinsame Zeit, Energie und Unternehmungen beeinflussen – einschließlich der Sexualität. Aus diesem Grund ist Wünsche wie die eigene Sexualität und sexuelle Fantasien dem Beziehungspartner vorzuenthalten ganz objektiv unethisch. Der „betrügende“ Mensch macht die Situation sogar noch schlimmer als vorher: Er erzeugt nämlich zusätzliche Konflikte wegen der zutiefst unfairen Natur seines Verhaltens, die ein Potential für das explosive Auffliegen der Lügengebäude rund um den heimlichen Sex schafft.
Die belgisch-israelische Paartherapeutin Esther Perel hat einen umfassenden TED-Talk zum Thema heimliche Affären gehalten, dem ich in allen Punkten zustimme. Sie bespricht darin, was Menschen dazu treibt, in einer Beziehung heimlich Sex zu haben, und wie betroffene Paare nach einer aufgeflogenen Affäre wieder zusammenfinden können.
Daraus aber zu schließen, diejenigen, die ihre sexuellen Wünsche heimlich ausleben, wären die „Bösen“ und diejenigen, die das brav gemäß der monogamen Lüge nicht tun, wären die „Guten“, ist genauso falsch. Denn in Wirklichkeit haben Mensch A und Mensch B in einer Liebesbeziehung, die gemeinsam die monogame Lüge leben, an ihrer Aufrechterhaltung jeweils zu 50% ihren Anteil.
Mensch A ignoriert die eigenen sexuellen Bedürfnisse an andere Menschen und erwartet dies auch vom Gegenüber: Damit haben wir die ersten 50%. Denn vom Gegenüber einzufordern, die eigene Sexualität, einen der stärksten Teile der eigenen Persönlichkeit, zu ignorieren, ist nicht Liebe, sondern blankes Besitzdenken. Mensch B wird wie ein Sexspielzeug behandelt, das nach Gebrauch wieder in die Lade zurückgelegt wird und dort bleibt, nicht wie ein selbst entscheidendes Individuum mit gleichen Rechten.
Mensch B, der seine eigenen sexuellen Bedürfnisse nicht ignoriert, erwartet von Mensch A, ihm_ihr keine Grenzen bei der Auslebung der eigenen sexuellen Bedürfnisse zu setzen. Das kommt daher, dass nur mit Rebellion aus einem starren System ausgebrochen werden kann. Der erste Schritt ist dabei immer, das exakte Gegenteil der bekämpften Sache anzuwenden, um diese damit zu besiegen. Wenn also eine Seite gemäß der monogamen Lüge ständig Grenzen zieht, versucht die Gegenseite durch eine absolute Allergie gegen alle Grenzen, auch gegen sinnvolle, diesen Unterdrückungsmechanismus zu beenden. Damit haben wir die fehlenden 50%.
Diese beiden Persönlichkeitsstrukturen verstärken sich nun gegenseitig:
Mensch B, der seine Ebene Lust ausleben will, ist vom ständigen Abblocken von Mensch A, der seine eigene Ebene Lust unterdrückt und die seines Gegenübers ignoriert, genervt. Je nach Dauer und Art des Konflikts kann Mensch B viel Wut entwickeln, die sich schließlich in alleinigen Aktionen niederschlägt: „Wenn du mir mein gutes Recht nicht zugestehst und mich wie ein Spielzeug behandelst, mache ich es halt einfach, ohne dich zu fragen!“
Dieses Verhalten bleibt von Mensch A natürlich nicht unbemerkt, doch anstatt an der eigenen Weltsicht zu zweifeln, wird die Wut an dem_der Beziehungspartner_in ausgelassen und noch mehr abgeblockt: „Du hast nur mit mir Sex zu wollen, und gegen dieses Gesetz gehandelt, jetzt ziehe ich die Barrikaden noch höher!“
Beide Seiten sehen sich im Recht und versuchen, ihr Gegenüber von der Richtigkeit der eigenen Strategie zu überzeugen – dabei betreiben beide den 50%-Anteil eines Konzeptes, das an sich falsch ist.
Das kann solange gehen, bis sich die monogame Lüge selbst in den Schwanz beißt:
- Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
Ein Mensch in der Liebesbeziehung findet andere Menschen geil und würde mit diesen gerne sexuelle Erlebnisse anstreben.
- Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
Dieser Mensch verschwurbelt nun – meistens unbewusst (!) – aufgrund der monogamen Lüge sein eigenes Bedürfnis:
Um Sex allein kann es nicht gehen. Denn einen sexuellen Wunsch zu haben bedeutet ja, automatisch auch einen romantischen Nähewunsch auszudrücken…
Außerdem nervt die ständige Notwendigkeit zur Verheimlichung. Warum können wir nicht „einfach so“ … ?
Damit beginnt der Mensch, sich in einen neuen Menschen, den er_sie gerade geil findet, zu verlieben. Und hier ist nicht die Rede von der Einzementierung der patriarchalen Lüge, wo die Ebene Liebe vorgespielt wird, um Sex zu bekommen. Der Mensch, der sich verliebt, empfindet tatsächlich Verliebtheitsgefühle und einen Beziehungswunsch mit diesem neuen Menschen.
Wenn die Verliebtheit erwidert wird, ist der abblockende Mensch mit seinen eigenen Waffen geschlagen: Denn gemeinsam mit der Ebene Liebe gibt es auch eine Ebene Lust mit dem neuen Menschen – ganz offiziell. Der Mensch, der sich verliebt hat, kann nun endlich mit einem anderen Menschen einfach Sex haben.
Wegen dem dritten und vierten Punkt der monogamen Lüge wird nun allerdings die Ebene Liebe mit dem ersten Menschen in Frage gestellt:
- Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
- Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, sich in jemand Anderen zu verlieben.
Im Umkehrschluss bedeutet nun die Tatsache, dass sich der_die Beziehungspartner_in neu verliebt hat, dass die eigene Liebesbeziehung und/oder die gemeinsame Sexualität innerhalb der Liebesbeziehung nicht das Richtige für alle Beteiligten war. Wenn sie das gewesen wäre, man selbst/das Gegenüber ja nicht mit einem anderen Menschen Sex angestrebt und/oder sich neu verliebt.
Dieser Konflikt erzeugt emotionalen Schmerz auf beiden Seiten und führt im üblichsten Szenario zur Trennung des Ursprungspaares. Damit kommen wir zu einem wohlbekannten Phänomen, das sowohl im Mainstream als auch in der queeren Szene weit verbreitet ist: der seriellen Monogamie.