Herzgespinste – Teil 2/7: Was ist eine Nebenbeziehung? oder: Hierarschische [sic] Polyamorie

Die Poly-Szene behauptet, dass es zwei verschiedene Arten von Liebesbeziehungen gäbe:

  1. Die beteiligten Menschen haben untereinander die gleichen Rechte: Sie sind beim Mitspracherecht über Lebensentscheidungen, wie die gemeinsame Sexualität oder den Wohnort, gleichgestellt.

Parallel zu diesem verbreiteten und funktionierenden Konzept hat die Poly-Szene eine neue Art von Beziehung erfunden:

  1. Die beteiligten Menschen erleben sich zwar als eine romantische Verbindung, sind aber bei Lebensentscheidungen nicht gleichberechtigt. Sie müssen sich über Entscheidungen lediglich gegenseitig informieren, das Gegenüber muss jedoch alleine mit den Konsequenzen umgehen.

Für einen Menschen, der keine Hauptbeziehung, sondern nur eine oder mehrere Nebenbeziehung(en) haben möchte, hat die Poly-Szene die Bezeichung solo-poly erfunden.

Wenn ein Mensch beide Varianten gleichzeitig lebt oder anstrebt, wird diese Lebensweise hierarchische Polyamorie genannt, und die Beziehungsarten durch verschiedene Begriffe gekennzeichnet:

  • Gleichberechtigte Beziehungen werden Hauptbeziehung, Hauptpartnerschaft oder engl. primary genannt. Lebt die Hauptbeziehung in einem gemeinsamen Haushalt, wird sie als engl. nesting partner bezeichnet.
  • Romantische Verbindungen, denen relativ dazu weniger Rechte eingeräumt werden, werden Nebenbeziehung, Satellit oder engl. secondary genannt.

Eine Nebenbeziehung kann sich durch entweder einige oder alle der folgenden Punkte von einer Hauptbeziehung unterscheiden:

  • Bei beruflichen, familiären oder öffentlichen Anlässen tritt nur die Hauptbeziehung als sichtbares Paar auf – die Nebenbeziehung ist entweder von vorneherein nicht eingeladen, oder soll, wenn anwesend, Nähehandlungen unterlassen, und nur ausgewählten Menschen oder sogar niemandem die wirkliche Situation zeigen. Eine häufige Variante ist, dass die Nebenbeziehung schauspielern muss, ein Familienmitglied oder nur eine gute Freundschaft des_der Partner_in zu sein.
  • Das Hauptbeziehungspaar ist bereits im Sprachgebrauch „das Pärchen“ oder „Unsere Beziehung“. Ebenjenes Paar verbietet der Nebenbeziehung, dieselben Bezeichnungen für die eigene romantische Verbindung zu verwenden, was zur Folge hat, dass die Nebenbeziehung immer als Einzelperson dem Hauptbeziehungspaar als Einheit gegenübersteht. Das begünstigt, dass „das Pärchen“ dann bei einem Streit gegen die Nebenbeziehung zusammenhält.
  • Bei Treffen und Zeitvereinbarungen will das Hauptbeziehungspaar alleine darüber entscheiden, wann die Nebenbeziehung die eigene Zeit mit Partner_in verbringt, und was sie in dieser Zeit machen oder unterlassen soll. Der Nebenbeziehung wird dann nur ein Ja oder Nein zu vollendeten Tatsachen zugestanden.
  • Das Hauptbeziehungspaar trifft sich jederzeit ohne Rücksprache zu zweit, während die Nebenbeziehung jede Pärchenzeit vorher beantragen muss. In manchen Fällen bekommt sie gar keine eigene Pärchenzeit, sondern nur Zeit zu dritt, wo die Hauptbeziehung des Gegenübers automatisch dabei ist. Eine Erscheinungsform davon ist zum Beispiel, dass das Hauptbeziehungspaar zusammenwohnt, und natürlich beide mit einem Schlüssel ein- und ausgehen, wohingegen die Nebenbeziehung keinen Schlüssel bekommt, und sich dadurch wie ein Gast jedes Mal anmelden muss.
  • Während das Hauptbeziehungspaar gemeinsam Zukunftspläne schmiedet, hat die Nebenbeziehung dazu keinerlei Mitspracherecht und auch keine Aussicht darauf, solches jemals zu bekommen. Sie muss sich bei Umzug, Jobwechsel, Kinderwunsch des_r Partner_in widerspruchslos den neuen Gegebenheiten fügen.
  • Ist die Nebenbeziehung mit den Vorgaben oder Regeln des Hauptbeziehungspaares nicht einverstanden, bekommt sie eben gar keine Zeit mit Partner_in, egal welche Bedürfnisse sie gerade hätte.

Die dominante Argumentation innerhalb der Diskussion der Poly-Szene lautet, dass eine Nebenbeziehung gut geeignet wäre, um die individuellen Bedürfnisse und die freie Entfaltung aller Beteiligten zu garantieren, da die Beteiligten die Wünsche des Gegenübers weniger berücksichtigen müssen, und im Zweifelsfall den eigenen Wünschen ohne Diskussion Vorrang geben können. Diese Denkweise teile ich als Ex-Szenegängerin absolut nicht. Vereinzelte Stimmen innerhalb der Poly-Szene sind mit dem Dogma ebenfalls nicht einverstanden. Am besten dargestellt ist meine Kritik folgendermaßen:

 

Ewigkeitsbett mit zwei Matratzen, eine große unten und eine kleinere darauf. Auf beiden Flächen liegen Polster. Darunter ein Schriftzug: „Das Bett für Polys: Nebenbeziehungen schlafen unten.“

Das Bett steht für eine realistische Situation in einem Polykül, das aus mindestens einer Haupt- und einer Nebenbeziehung besteht, wie im Schema unten abgebildet.

Ein V-Polykül, in dem Mensch B mit Mensch A (links) eine Hauptbeziehung hat, und mit Mensch C (rechts) eine Nebenbeziehung.

Mensch A und Mensch B, die zueinander die Hauptbeziehung sind, kuscheln oben im gemeinsamen Bett. Im häufigsten Fall ist dies das chronologisch älteste Paar des Polyküls, das ich das Ursprungspaar nenne. Die Nebenbeziehung Mensch C muss alleine schlafen oder darauf warten, bis das Hauptbeziehungspaar fertig ist, bevor sie drankommt. Die räumliche Entfernung ist dabei egal: Ob Haupt- und Nebenbeziehung(en) nur durch ein Bett oder eine andere Stadt getrennt sind, hat auf das Szenario und seine Folgen keinen Einfluss.

Nun stelle ich mir vor, dass eine solche Situation nicht unbedingt zur allgemeinen Entspannung beiträgt. Das Hauptbeziehungspaar Mensch A und Mensch B möchte ungestört miteinander Pärchenzeit verbringen, wird aber – unbewusst oder aktiv – durch die ungute, ungelöste Situation mit (einem) wartenden Menschen abgelenkt. Die Nebenbeziehung Mensch C möchte ebenfalls Gespräche, Sex, oder liebevolle Aufmerksamkeit mit Mensch B teilen, muss dabei aber ständig die Wünsche der Hauptbeziehung Mensch A vor den eigenen einkalkulieren.

In dieser Situation sind mehrere Konflikte vorprogrammiert:

  • Innerhalb der Hauptbeziehung, zwischen Mensch A und Mensch B:
    Mensch B will mehr Zeit mit der Nebenbeziehung Mensch C verbringen, als Mensch A Recht ist.
  • Innerhalb der Nebenbeziehung, zwischen Mensch B und Mensch C:
    Wenn Mensch C Wünsche hat, die über die vereinbarten Unterschiede zur Hauptbeziehung mit Mensch A hinausgehen und Mensch B daher das ganze hierarchische Konzept anpassen muss / müsste.
  • Und, am schlimmsten, zwischen den Metamours Mensch A und Mensch C:
    Die Hauptbeziehung Mensch A und die Nebenbeziehung Mensch C geraten schnell in un- oder halbbewusste Machtspielchen, wie die gemeinsame Pärchenzeit oder (angebliche) Äußerungen von Mensch B als emotionale Erpressung gegenüber dem_der Anderen einzusetzen. Häufig lässt Mensch B solche Machtspielchen einfach passieren, oder spielt sogar aktiv mit, solange sier davon einen Vorteil hat.

Das gesamte Konfliktpotential staut sich über Zeit auf und entlädt sich bei Gelegenheit immer wieder in Streitgesprächen oder Handlungen, die die Grenzen von mindestens einem Menschen überfahren.

Falls sich die beteiligten Menschen „der Poly-Idee verpflichtet fühlen“, können diese Streitsituationen in einen sogenannten Prozess münden. Ein Prozess besteht daraus, dass sich alle Beteiligten zusammensetzen, und miteinander über ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche an ihre Gegenüber reden, mit dem Ziel, Missverständnisse zu klären, und neue Verhaltensweisen vorzuschlagen (was dann prozessieren genannt wird). Der Prozess endet, wenn letztendlich eine gemeinsame zufriedenstellende Lösung für alle gefunden wurde.

Diese Kommunikationsmethode ist grundsätzlich sehr nützlich und hat als gesundes Element wohl eher zufällig in die Ideologie der Poly-Szene Eingang gefunden. Wenn richtig angewandt (!), ist sie nämlich eine empfehlenswerte Konfliktstrategie für alle Liebesbeziehungen, egal ob zu zweit oder zu mehrt. Sie steht und fällt allerdings mit einem einzigen, entscheidenden Faktor: Sie muss tatsächlich von allen Beteiligten für alle Beteiligten lösungsorientiert (und nicht für den eigenen Vorteil um jeden Preis!) geführt werden. Anders gesagt: Wenn eine Person versucht, zu gewinnen, verlieren alle – und zwar emotionale Ressourcen, Vertrauen, und Nähe.

Leider können viele Menschen nicht zwischen lösungsorientierter Kommunikation und unbewussten oder bewussten Machtspielen bestimmter Personen oder Gruppen unterscheiden, weil sie es nie gelernt haben. Als Folge davon beherrschen die meisten Menschen in der Poly-Szene diese Kommunikationsmethode genauso wenig wie Menschen im Mainstream.

Daher wird in solchen Prozessen oft im Kreis prozessiert: Da die Kommunikation kaum lösungsorientiert geführt wird, einigen sich alle Beteiligten nur auf geringfügige Änderungen, sind aber nicht fähig, den Ursprung des Konflikts zu sehen oder anzuerkennen. Es wird sozusagen nur die Pflanze zurechtgestutzt, nicht aber die faulen Stellen an der Wurzel dieser Pflanze entfernt. Diese Vorgangsweise produziert früher oder später wieder ähnliche Konflikte, die wieder Streit verursachen, usw.

Daraus ergibt sich eine Situation, die überwiegend die Energie der beteiligten Menschen frisst: Ein ständig darunterliegender Konflikt sowie immer wieder Streitgespräche und/oder Prozesse ohne Ende in Sicht, die nur kurzfristige Lösungen bringen, laugen alle beteiligten Menschen aus – ein Erkennungsmerkmal eines instabilen Zwischenzustands auf der Näheskala.

Weitere Einsichten gewann ich durch meine persönliche Geschichte mit meiner Triade:

Als ich Maitri und Nemo kennenlernte, war ich nicht Single, sondern unterhielt seit einigen Monaten einen Hetero-Freund als unzureichend definierte Nebenbeziehung.

Unsere romantische Verbindung hatte als übliche Beziehung begonnen, wurde jedoch bereits nach einigen Wochen energiefressend, aufgrund wiederkehrender Konflikte wegen seines unfairen Verhaltens: Während er einer offenen Beziehung von Anfang an zugestimmt hatte, und begeistert andere Frauen kennenlernte und Sex hatte (mit der einzigen Einschränkung, mich nach einem Treffen zeitnah zu informieren), machte er jedes Mal eine Szene, sobald ich Interesse an einem anderen Mann zeigte. Dieses als OPP (One Penis Policy) bekannte Machtspielchen kommt in der Poly-Szene häufig vor. Da ich das Manöver aus dem Mainstream kannte, verfolgte ich mein Interesse jedes Mal, suchte jedoch danach ein Gespräch, um einen Kompromiss zwischen meinen und seinen Wünschen und Grenzen zu finden. Er stimmte jedes Mal Änderungen zu, machte aber dann genauso weiter wie zuvor. Nach drei Monaten reichte es mir, und ich teilte ihm mit, dass er ab jetzt meine Nebenbeziehung sei, womit ich sowohl ihm als auch der Szene gegenüber klarstellte, dass er kein Mitspracherecht in der Wahl meiner nächsten sexuellen oder romantischen Interessen hatte.

Kurz danach kam ich mit Maitri und mit Nemo zusammen. Am Anfang glaubten wir alle noch ein bisschen an die Idee einer Nebenbeziehung (als etwas, das näher als Freundschaft, aber weniger nahe als eine volle Beziehung wäre). Es fühlte sich allerdings emotional nicht schön an, alleine in meinem WG-Zimmer zu übernachten, während Maitri und Nemo zusammenwohnten, im selben Bett schliefen, und jederzeit Pärchenzeit miteinander verbringen konnten. Ebenso wollte keine_r von uns den_die Andere aussperren oder aus dem Bett vertreiben, wenn ein_e Dritt_e gerade liebevolle Aufmerksamkeit, Sex, oder Kuscheln brauchte – eine Vorgehensweise, die mich als Nebenbeziehung zu definieren früher oder später mit sich gebracht hätte.

Nach zwei Monaten hatten Maitri, Nemo und ich eine emotionale Diskussion über das Thema. Als Ergebnis warfen wir auch explizit das Konzept der Nebenbeziehung über Bord und führten auch offiziell gleichberechtigtes Mitspracherecht und gleichlautende Vereinbarungen für alle Beteiligten ein. Im Zuge dieser Entwicklung verstand ich die unethischen Konsequenzen eines hierarchischen Beziehungsmodells in alle Richtungen, und machte endgültig mit meiner Nebenbeziehung Schluss.

Im Nachhinein bin ich froh, dass ich eine energiefressende Verbindung in meinem Polykül hatte, denn mit einem netten Menschen an meiner Seite hätte es keine akute Notwendigkeit gegeben, die unbewussten Dynamiken rund um eine Nebenbeziehung zu durchschauen. Nach drei Monaten zog ich mit Maitri und Nemo zusammen, und wir vereinbarten, keinen weiteren Beziehungsmöglichkeiten mehr offen ( = romantisch geschlossen) zu sein, wodurch wir zu der polyamoren Triade wurden, die wir heute sind.

Aus diesen Beobachtungen und meinen eigenen Erfahrungen schließe ich, dass die Idee einer Nebenbeziehung an sich, und daher hierarchische Polyamorie – egal, ob als solo-poly oder in einer Kombination von Haupt- und Nebenbeziehungen – kein konstruktives, gesundes Modell über romantische Beziehungen darstellt.

Im Gegenteil scheint es sich, einem freud’schen Vertipper von mir zufolge, eher um „hierarschische“ Polyamorie zu handeln.

Herzgespinste – Teil 3/7: New relationship energy oder: Das Energie-Gleichgewicht zwischen Paaren in einem Polykül

Ein vielzitiertes Phänomen in der Poly-Szene ist new relationship energy, abgekürzt NRE, – die Energie einer neuen, frischen Verliebtheit.

Diese kennen alle Menschen, die schon einmal so richtig verliebt waren, in ein Gegenüber, das wiederum so richtig zurückverliebt war: Beide Menschen haben eine überdurchschnittlich gute Laune, einen unerschütterlichen Optimismus, und es gehen sogar zuvor anstrengende oder langweilige Tätigkeiten leichter von der Hand – insbesondere, wenn sie dazu beitragen, mit dem geliebten Menschen zusammen zu sein.

Nun glauben viele regelmäßige Besucher_innen der Poly-Szene, dass die Energie einer neuen Verliebtheit einer bestehenden Beziehung nutzt, indem sie zwischen den Beteiligten der Ursprungsbeziehung anstatt Eifersucht die sogenannte Mitfreude hervorbringt, wie in diesem V-Polykül beschrieben:Ein V-Polykül aus Mensch B, der mit Mensch A und Mensch C zusammen ist.

Mensch A und Mensch B sind eine Paarbeziehung. Mensch B hat Mensch C kennengelernt, und sich verliebt. Nun freut sich Mensch B, dass die eigene Verliebtheit von Mensch C erwidert wird, und Mensch A freut sich, dass es Mensch B gut geht, weil er_sie frisch verliebt ist. Die Mitfreude wiederum schafft eine gute Stimmung zwischen den Beteiligten der chronologisch älteren Beziehung, wodurch Mensch A und Mensch B wieder liebevoller miteinander umgehen.

Wer sich jetzt denkt, dass das nicht stimmen kann, weil es zwischen Mensch A und Mensch B doch Eifersucht und Probleme geben muss, liegt falsch: Der positive Effekt einer neuen Verliebtheit auf eine bestehende Beziehung existiert tatsächlich – ich habe ihn selbst erlebt, viele passende Schilderungen gelesen, und bei anderen Polykülen direkt beobachtet.

Wie ich herausgefunden habe, hat dieser Effekt allerdings eine hässliche Ursache. Als Folge davon hält der Effekt nicht lange an, sondern produziert nach einiger Zeit energiefressende Dynamiken für alle Beteiligten des Polyküls – es gibt also Probleme, allerdings zeitverzögert.

Alle diese Auswirkungen basieren auf einem Energieaustausch:

Bei einer Zweierbeziehung ist die Gesamtanzahl aller beteiligten Menschen gleich groß wie das Paar: Es geht immer um zwei Menschen. Ist die Paarbeziehung energiefressend, sind daher nur zwei Menschen betroffen – und möglicherweise noch eventuell vorhandene Kinder. Inwiefern eine Paarbeziehung energiefressend sein kann, habe ich in Das Energie-Gleichgewicht innerhalb einer Paarbeziehung beschrieben. Weist ein beteiligter Mensch ein energiefressendes Verhalten auf und/oder befindet sich die Paarbeziehung in einem energiefressenden Zustand, hat dies in einem Polykül allerdings eine Auswirkung, die zwischen zwei Menschen gar nicht vorkommt – und welche Paare, die ihre Beziehung öffnen, um Polyamorie zu versuchen, daher meistens nicht mitbedenken.

Jedes Polykül besteht aus mindestens zwei Paarbeziehungen – das Minimum sind also drei Menschen. Der Energieaustausch findet, ähnlich der Osmose in der Chemie, an allen Verbindungspunkten zu weiteren dranhängenden romantischen Verbindungen oder Beziehungen statt. Bei den in Das Poly-Zeitproblem vorgestellten verschiedenen Polykülen ist das überall, wo sich zwei oder mehr Linien berühren.

Wenn sich nun ein Mensch frisch verliebt, und sich das angesprochene Gegenüber zurückverliebt, entsteht eine frische Verliebheit, die Energie produziert. Wenn derselbe Mensch gleichzeitig in einer instabilen, energiefressenden romantischen Verbindung oder Paarbeziehung ist, beeinflusst das über Energieaustausch auch die weitere(n) Paarbeziehung(en) oder Metamour-Verhältnisse negativ, selbst wenn diese für sich alleine sehr gut, also überwiegend energiegebend, laufen (würden). Dieser unbewusste (!) Energiefluss macht sich durch eine eigene Dynamik bemerkbar, für die Maitri, Nemo und ich die Bezeichnung Verschobene Grenzen erfunden haben.

Beispiele:

Mensch A und Mensch B sind miteinander in einer Paarbeziehung. Sie öffnen diese romantisch, allerdings nicht aus einer Primärmotivation für Polyamorie, sondern aus einer Sekundärmotivation. Das ist entscheidend, denn jede Sekundärmotivation ist per Definition ein Versuch, die Erfüllung eines Bedürfnisses über unnötige Umwege zu bekommen, und damit energiefressend.

Angenommen, dieses romantisch offene Paar lernt einen geeigneten dritten Menschen, Mensch C, kennen. Zwischen Mensch B im Ursprungspaar und dem neuen Mensch C funkt es und sie beginnen, liebevolle Aufmerksamkeit(en) zu teilen (etwa „Ich vermisse dich“-Kurznachrichten), sich zu küssen oder zu kuscheln, also romantische Verhaltensweisen zu zeigen. Damit gibt es auf einmal eine zusätzliche Ebene Liebe. Gemäß der Näheskala reichen für eine neue Verbindung auf der Ebene Liebe übrigens genügend romantische Handlungen, bis Verliebtheitsgefühle entstehen. Sex oder eine offizielle Paarbeziehung sind nicht notwendig, verstärken jedoch die Verliebtheit, sobald vorhanden.

Wir haben also das energiefressende Ursprungspaar EF (= Energiefresser) aus Mensch A und Mensch B sowie die neue romantische Verbindung EG (= Energiegeber) aus Mensch B und Mensch C, deren frische Verliebtheit Energie produziert.

Um diese Situation selbst zu erleben, ist übrigens nicht zwingend Polyamorie notwendig. Der Effekt entsteht immer, wenn drei Zutaten zusammenkommen:

  • Eine bestehende energiefressende Beziehung (oder etwas, das de facto eine Beziehung ist, welche die Beteiligten aber nicht so nennen – „Es ist kompliziert“),
  • eine Verliebtheit in einen neuen Menschen,
  • sowie dass der neue Mensch die Gefühle erwidert.

Das kommt häufiger vor, als die meisten Menschen denken, denn wer monogam in einer unglücklichen (= energiefressenden) Beziehung lebt, sich aber in die heimliche Affäre oder den_die Arbeitskolleg_in verliebt, welche sich ebenfalls zurückverlieben, steckt bereits in so einer Situation.

Die entstandene Verbindung / das entstandene V-Polykül sieht dann so aus:

Wie bei kommunizierenden Gefäßen wandert nun die Energie vom energieproduzierenden zum energiefressenden Paar. Das setzt die Dynamik der verschobenen Grenzen in Gang:

Aus der Sicht von Mensch B, der sowohl Teil von EG als auch von EF ist, wirkt auf einmal der Anteil von Mensch A am Energieminus von EF, also Verhaltensweisen, die vorher dauernervig, unfair oder grenzüberschreitend waren, gar nicht mehr so schlimm. Denn Mensch B hat nun mehr als seine eigene Energie zur Verfügung, nämlich die Energie von EG, um das Energieminus in EF auszugleichen. Bewusst äußert sich dies durch weniger Genervtheit, Erschöpfung oder destruktive Konflikte (auch unausgesprochene!) innerhalb EF und dass Mensch B bisher störende Situationen und Verhaltensweisen uminterpretiert – zu „Passt eh“ oder gar „spannende Eigenheit von Mensch A“. Subjektiv gesehen scheint die EF-Beziehung zwischen Mensch A und Mensch B also plötzlich besser zu funktionieren, obwohl alle energiefressenden Dynamiken natürlich unverändert weiterlaufen.

Die andere Seite bleibt davon nicht unbeeinflusst: Die Energie von EG wird schließlich angezapft. Am Anfang kann dies unbemerkt bleiben, da nur die überschüssige Energie abgezogen wird, und EG wenigstens noch die benötigte Energie, damit die Beziehung gut läuft, produzieren kann. Energiefresser sind jedoch üblicherweise Energieparasiten, die alle Energie in Reichweite fressen, um ja nichts an den eigenen Verhaltensweisen ändern zu müssen. Daher beginnt EF bald, sogar die benötigte Energie von EG abzuziehen, wodurch auch in der neuen Verbindung ein Energieminus entsteht. Dies äußert sich in plötzlichen Konflikten zwischen Mensch B und Mensch C, den ursprünglichen Energiegebern. Diese Konflikte wurden von Mensch B unbewusst aus der Beziehung mit Mensch A „verschoben“ und brechen sich nun wie Wellen an der Küste am nächsten geeigneten Menschen ihre Bahn. Die EG-Paarbeziehung leidet in Folge unter Genervtheit, Erschöpfung und destruktiven Konflikten und wird dadurch ebenfalls zu einer instabilen, energiefressenden Paarbeziehung.

Die Themen der plötzlichen Konflikte zwischen der neuesten Verbindung aus Mensch B und Mensch C sind dabei ein guter Hinweis – genau diese Wünsche, Grenzen, und Themen sind höchstwahrscheinlich der Auslöser für die energiefressenden Dynamiken zwischen Mensch A und Mensch B – daher auch die Bezeichnung Verschobene Grenzen.

Leider verläuft dies in der Praxis jedoch nicht so linear, wie hier beschrieben, sondern wird noch von weiteren Faktoren beeinflusst. Die wichtigsten davon sind:

  • Die Fähigkeit zu konstruktiven Konflikten: „Setz dich hin. Wir reden das jetzt ordentlich aus!“ vs. „Dir zahl ich’s heim!“
  • Unaufgearbeitete negative Erfahrungen mit einer Ex-Beziehung: „Das ist ein anderer Mensch als mein_e Ex. Ich frag lieber mal nach, bevor ich einfach etwas annehme.“ vs. „Genau wie mein_e Ex!! Nur dass ich diesmal nicht die Dumme sein werde…“

Um eine destruktive, energiefressende Dynamik in einer Paarbeziehung loszutreten, die dann das gesamte Polykül überschwappt, reicht es bereits, wenn sich eine Seite destruktiv verhält und sich weigert, die Situation in Ruhe auszudiskutieren. Verständlicherweise wird es noch schwieriger, wenn beide Seiten ein solches Verhalten zeigen.

Wenn die Beteiligten des romantisch offenen Paares / Polyküls, wie in der Poly-Szene üblich, dann auch noch jederzeit zusätzliche romantische Verbindungen anhängen, verkompliziert das die Energieflüsse entsprechend, wodurch eine Negativspirale entsteht, die es für das EF-Paar besonders schwer macht, die verschobenen Grenzen zu erkennen und auszusteigen:

Beispiele:

Das Ursprungspaar besteht aus Mensch A und Mensch B. Mensch B verliebt sich in Mensch C und beginnt daraufhin mit Mensch C eine romantische Verbindung oder neue Beziehung. Mit Mensch A wurde die Organisation dieser neuen Beziehung im Vorfeld entweder gar nicht oder unzureichend besprochen – zwischen Mensch A und Mensch B gibt es also Sekundärmotivationen, die Energie fressen.

Am Anfang kommt Mensch A damit klar, dass Mensch B und Mensch C zusammen sind – schließlich profitiert er_sie von der Energie, die aus dieser Verliebtheit in die eigene Beziehung fließt. Dann aber verbringt Mensch B zunehmend lieber Zeit mit dem neuen Menschen, um die frische Verliebtheit zu genießen. Da die Verbindung energiegebend ist, ist Mensch B mit Mensch C wahrscheinlich auch kreativer und liebevoller als mit Mensch A. Das stößt Mensch A immer mehr sauer auf. Mensch A ist daraufhin eifersüchtig, verletzt und/oder beginnt Angst um die Beziehung mit Mensch B zu haben. Die Folge sind (wieder aufflammende) Konflikte zwischen Mensch A und Mensch B.

Angenommen, Mensch B sieht daraufhin ein, dass zu viel Zeit mit Mensch C die Beziehung zu Mensch A in Gefahr bringt. Daher schränkt Mensch B den Kontakt mit Mensch C ein. Mensch C ist deshalb verletzt und zieht sich zurück. Mensch A und Mensch B sind jetzt wieder zu zweit. Da es aber keine Verliebtheit von außerhalb mehr gibt, deren Energie die energiefressende Beziehung ausbalanciert, brechen die alten Konflikte zwischen Mensch A und Mensch B wieder aus. Dies begünstigt, dass die Dynamik umschlägt:

Mensch A ist von den zurückkehrenden Konflikten frustriert, da er_sie sich aus der Beendigung der Beziehung zwischen Mensch B und Mensch C eine schöne Zeit mit Mensch B erhofft hat – die jetzt nicht eingetroffen ist. Daher investiert Mensch A nun Zeit in Mensch D, verliebt sich, und beginnt bald darauf eine romantische Verbindung oder Beziehung mit Mensch D. Mit Mensch B wurde der Beginn dieser neuen Beziehung im Vorfeld entweder gar nicht oder nur unzureichend besprochen – zwischen Mensch A und Mensch B gibt es also Sekundärmotivationen, die Energie fressen.

Am Anfang kommt Mensch B damit klar, dass Mensch A und Mensch D zusammen sind – schließlich profitiert er_sie von der Energie, die aus dieser Verliebtheit in die eigene Beziehung fließt. Dann aber verbringt Mensch A zunehmend lieber Zeit mit dem neuen Menschen, um die frische Verliebtheit zu genießen, usw.

Der Energie einer frischen Verliebtheit nützt dem Ursprungspaar also tatsächlich – allerdings nur kurz, und mit einem hohen Preis: Falls nicht schon im Vorfeld Grenzüberschreitungen passiert sind („Ich teile dir mit, mit wem ich außer dir noch etwas habe, aber ob du das ok findest, ist mir wurscht!“), können die Beteiligten der bestehenden Beziehung das als Mitfreude bezeichnete positive Gefühl empfinden – allerdings nur für die ersten paar Wochen. Dann kippt das Gleichgewicht, und auch die EG-Beziehung fällt wie die EF-Beziehung ins Energieminus. An diesem Punkt muss natürlich eine neue EG-Beziehung her, die wiederum durch NRE bereitstellt, usw.

Aber auch gegenüber dem Menschen der neuen Verliebtheit oder Beziehung ist diese Entwicklung zutiefst unfair: Anstatt die Energie der Verliebtheit dem jeweiligen Paar zu lassen, wofür sie eigentlich gedacht ist, um dort schöne Erlebnisse herzustellen und notwendige Beziehungsarbeit zu erleichtern, fließt diese in eine oder mehrere fremde, energiefressende Struktur(en) und verschwindet darin wie in einem schwarzen Loch.

Die einzige Möglichkeit, aus der Negativspirale auszusteigen, ist, den Ursprung der Konflikte zwischen Mensch A und Mensch B zu finden und gemeinsam zu lösen. Die EF-Paarbeziehung muss dann so angeschaut werden, als ob sie eine Zweierbeziehung ohne weitere dranhängende Beziehung(en) wäre:

  • Wurde die polyamore Erweiterung aus einer Sekundärmotivation eingegangen?
    (Siehe dazu das Flowchart: Ist Polyamorie etwas für mich?)
  • Trifft einer oder mehrere der Gründe für eine instabile Paarbeziehung zu?
  • Wie können wir unsere Situation gemeinsam Schritt für Schritt ändern, sodass unsere Beziehung stabil und energiegebend wird?

Wenn hingegen über keines dieser Themen eine konstruktive Kommunikation (mehr) möglich ist oder eine Liebesbeziehung von vorneherein nicht die passende Verbindung war, bleibt als einzige Lösung, dass sich Mensch A und B trennen.

Unbearbeitet bewegt sich das gesamte Beziehungsgeflecht im Laufe von ein paar Monaten über den miauenden Hund und/oder den seriell-parallelen Durchlauferhitzer auf einen emotionalen Atompilz zu, in dem es schlussendlich hochgeht.

Seriell-parallele Polyamorie – Teil 1/2: Der miauende Hund oder: Ohne dich kann ich nicht sein – mit dir bin ich auch allein.

Ein Mensch, der „poly ist“, betreibt mehrere Verliebtheiten gleichzeitig und teilt die eigene Zeit unter diesen auf. Da aber immer wieder (üblicherweise mit einem Abstand von mehreren Monaten) eine neue Verliebtheit an das Beziehungsgeflecht angehängt wird, bleibt für die chronologisch älteren Verliebtheiten irgendwann nicht mehr genug Zeit und Platz, um die tiefe Nähe einer ernstgemeinten Liebesbeziehung aufrechtzuerhalten.

Da es für die daraus entstehenden Dynamiken noch keine eigenen Bezeichnungen gibt, haben mein Lebensgefährte Nemo und ich eigene erfunden:

  • der miauende Hund und
  • der seriell-parallele Durchlauferhitzer.

Oftmals hat die chronologisch ältere Beziehung keine Vereinbarungen, wann und wie Zeit miteinander verbracht wird: „Wir sehen uns eh“. An diese flexible Situation des Ursprungspaares wird nun eine neue Verliebtheit anhängt. Dadurch, dass der neue Mensch ebenfalls Zeit benötigt, verbringen die Beteiligten des Ursprungspaares schlagartig weniger Zeit miteinander, oder sind in einem gemeinsamen Haushalt einfach „weniger da“. Die gemeinsame Nähe sinkt so von der tiefen Nähe einer Liebesbeziehung graduell auf die Nähe einer entfernten Bekanntschaft mit Sex. Dadurch wird die chronologisch ältere Beziehung zum miauenden Hund.

Die Beteiligten sehen ihre Verbindung allerdings immer noch als „Beziehung“, oder sich selbst als „Paar“. Bei genauerem Hinsehen haben aber die gegenseitigen Wünsche und Handlungen nicht mehr viel damit zu tun. So kann einem Menschen in einer solchen „Liebesbeziehung“ dann passieren, dass er_sie krank ist, oder emotionale Unterstützung benötigt, und dazu verständlicherweise Hilfe in der Beziehung sucht. Das angeblich verliebte Gegenüber bevorzugt es jedoch, Zeit mit der neuen Verliebtheit zu verbringen, anstatt sich um den Menschen in der Ursprungsbeziehung zu kümmern. Die Katze wird also mit „Hund“ angesprochen, miaut aber trotzdem, anstatt zu bellen.

Der nicht mehr erfüllbare Beziehungswunsch erzeugt zutiefst frustrierte Menschen, welche dann destruktive Konflikte ausfahren. Dies ist ein Erkennungsmerkmal eines instabilen Zwischenzustands auf der Näheskala, ähnlich dem einer Nebenbeziehung.

Der miauende Hund besteht solange, wie die Beteiligten Worte und Handlungen der Ebene 6 der Näheskala trotzdem verwenden. Dazu gehört bei der Beziehungsform die private Bezeichnung als „Beziehung“, oder als erkennbares „Paar“ zu öffentlichen Anlässen aufzutreten. Bei den Handlungen natürlich romantische Nähehandlungen (Küssen, Kuscheln, Miteinander einschlafen). Alle diese Verhaltensweisen befeuern im Unbewussten die Sehnsucht nach der tiefen Nähe einer Liebesbeziehung mit dem betreffenden Menschen weiter. Wie Tantalos hat ein Mensch, der in einem miauenden Hund lebt, ständig die Hoffnung auf eine Liebesbeziehung vor Augen, welche aber, sobald er_sie diese leben will, auf ein (zeitlich und emotional) kaum anwesendes, kaltes Gegenüber trifft.

Seriell-parallele Polyamorie – Teil 2/2: Der Durchlauferhitzer oder: Was interessiert mich mein Gspusi von gestern…

Wenn sich die Beteiligten als „poly“ verstehen, jedoch den miauenden Hund nicht ernst nehmen, bleibt das Beziehungsgeflecht weiterhin romantisch offen. Früher oder später lernt also wieder jemand eine neue Verliebtheiten kennen, und fügt diese an das Polykül an. Dann beginnt der seriell-parallele Durchlauferhitzer: Die chronologisch älteren Verbindungen fallen nach und nach zugunsten einer neuen (meistens sekundärmotivierten) Verliebtheit, einer neuen „Hitze“ also, aus dem Beziehungsgeflecht.

Durch den miauenden Hund wird die anfängliche Verliebtheit in der Ursprungsbeziehung nämlich weniger, und verschwindet nach einiger Zeit völlig. Dann entscheidet entweder das Frustrationsausmaß in der Beziehung, oder sogar einfach die Verfügbarkeit einer neuen Verliebtheit, welches Gegenüber zuerst geht.

Dabei macht entweder eine Seite aktiv Schluss, oder räumt einfach der neuen Verliebtheit immer bevorzugt Zeit und Energie ein, bis die Gegenseite geht. Manchmal schleifen auch beide Seiten die Beziehung aus, indem beide gleichzeitig mit einer jeweils anderen Verliebtheit beschäftigt sind. Dadurch sehen sie sich irgendwie nicht mehr, bis schließlich eine Seite ihre Sachen zurückholt.

Die Situation ist so anstrengend wie sie klingt. Menschen, die durch einen seriell-parallelen Durchlauferhitzer gehen, erleben eine wochen- oder monatelange nie endenwollende Frustration und destruktive Gefühlsachterbahn. Interessanterweise gibt es in der amerikanischen Poly-Szene bereits ein eigenes Wort dafür: polyagony, ein Portmanteau aus polyamory und agony (engl. Seelenqualen).

Die enttäuschten Hoffnungen aus dem miauenden Hund und Liebeskummer aus den Trennungen im seriell-parallelen Durchlauferhitzer sind dabei ein spürbarer Hinweis auf die darunterliegenden energiefressenden Zustände.

Wer mehrere solcher (ehemaliger) Verliebtheiten gleichzeitig betreibt, befindet sich daher gleich in mehreren energiefressenden Dauerzuständen. Das verstärkt den energiefressenden Effekt drastisch, was dann bei allen Beteiligten psychische Probleme verursacht. Letztendlich führt eine ständig romantisch offene Lebensweise zu chronischen psychischen Erkrankungen wie einer Depression oder einer Persönlichkeitsstörung.

Die Näheskala – Teil 3/3: Stabil oder instabil – das ist hier die Frage

Sobald zwei Menschen eine soziale Verbindung miteinander eingehen, findet zwischen den beteiligten Menschen, wie bei kommunizierenden Gefäßen, ein Energieaustausch statt. Auf der Näheskala passiert dies auf allen Ebenen, einen nennenswerten Effekt bemerken die meisten Menschen jedoch erst bei den höheren Ebenen: Je höher die Näheebene, desto „offener“ sind die Menschen einander gegenüber. Dementsprechend kann mehr Energie ausgetauscht werden, und der Effekt wird spürbarer.

Ein solcher Energieaustausch hat ausschließlich zwei mögliche Ergebnisse: Er kann entweder Energie produzieren oder Energie fressen. Neutral ist nicht möglich, da Energieaustausch immer Folgen hat, auch wenn diese von anderen, einflussreicheren Ereignissen übertönt werden.

Wie die stabilen Zustände funktionieren

Ein stabiler Zustand von 1 bis 6 ist daran erkennbar, dass die dazugehörigen Handlungen zwar einen Energieaufwand benötigen, aber in Summe mehr Energie produzieren, als am Anfang vorhanden war.

Beispiele:

Für eine stabile Ebene 5 (Freundschaft) müssen Treffen organisiert und wahrgenommen werden – das kostet Zeit und Energie. Dafür wirken mehrere gemütliche Abende mit Freunden in Summe entspannend und energiegebend (Unterstützung in einer Krise ausgenommen), sodass die beteiligten Menschen „mit Energie aufgetankt“ nachhause gehen.

Wie die Zwischenzustände (nicht) funktionieren

Ein Zwischenzustand ist daran erkennbar, dass er in Summe keine Energie freisetzt, sondern überwiegend Energie frisst: Die Beteiligten haben ständig das Gefühl, dass „etwas fehlt“, und fühlen sich nach den meisten Interaktionen oder sogar Gedanken an die betreffende Person genervt, verärgert, beleidigt, antriebslos, oder erschöpft.

Stabile Zwischenzustände gibt es per Definition nicht: Befinden sich Menschen auf einer Zwischenstufe, ist diese automatisch instabil: Die soziale Verbindung hat ein Ablaufdatum, nach dem sie ohne weiteres Zutun auf eine niedrigere stabile Stufe fällt. Welche niedrigere Stufe das ist, kommt auf die ehrlichen Wünsche und Interessen der Beteiligten des Zwischenzustandes an.

Um Zwischenzustände zu erkennen, habe ich die Näheskala auf die wichtigsten Spalten gewünschte Beziehungsform, gemeinsames Interesse und tatsächlich ausgeführte Handlungen verkürzt.

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
Fuckbuddy Sex Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken
2
(schließt 1 aus)
Systemerhalter Überleben Smalltalk,
Gemeinsames Systemerhalten,
Berufsgemeinschaft
1
(schließt alle anderen aus)
Feindschaft Einander Fernbleiben Ausweichen bis Wegweisen
bis Vernichten
Beispiele:

Eine instabile Ebene 5 (Freundschaft) kann so aussehen:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
Fuckbuddy Sex Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken
2
(schließt 1 aus)
Systemerhalter Überleben Smalltalk,
Gemeinsames Systemerhalten,
Berufsgemeinschaft
1
(schließt alle anderen aus)
Feindschaft Einander Fernbleiben Ausweichen bis Wegweisen
bis Vernichten

Die grün gefärbten Zellen sind die Lebensbereiche, die die Beteiligten aktiv miteinander teilen:

  • Die Beziehungsform ist beiderseits gewünscht
  • Das gemeinsame Interesse interessiert alle
  • Die Handlungen finden so statt, dass beide Menschen grundsätzlich zufrieden sind

Weiß gefärbte Zellen zeigen das Gegenteil:

  • Die Beziehungsform ist nur einseitig oder gar nicht gewünscht.
  • Das gemeinsame Interesse ist nur einseitig oder gar nicht vorhanden.
  • Die Handlungen passieren nicht, zu wenig, sekundärmotiviert, oder werden gar absichtlich vorgetäuscht.

Dies ist die häufigste Form eines instabilen Zwischenzustands: Nur die Handlungen einer bestimmten Ebene werden miteinander geteilt, während die gegenseitigen Wünsche oder das gemeinsame Interesse nicht derselben, sondern einer anderen Ebene entsprechen.

Das Energieminus entsteht aus der gegenseitigen Frustration der Bedürfnisse: Wenn zwei Menschen nur die Handlungen einer bestimmten Ebene machen, wecken diese bei eine_r oder beiden Beteiligten die (oftmals unbewusste) Sehnsucht, die gesamte höhere Ebene miteinander zu teilen. Wenn aber eine_r der Beteiligten oder sogar alle diese höhere Ebene aber nicht teilen möchten, weil sie dort nicht kompatibel sind oder gerade in einer Lebenssituation sind, in die das nicht passt, „saugt“ die ungeklärte, unvollständige Ebene dauernd Energie ab. Das Ergebnis sind gegenseitige Unzufriedenheit, hässliche Spielchen, und nach einiger Zeit emotionaler Schmerz.

In der zweithäufigsten Form eines instabilen Zwischenzustands ist der Wunsch und das gemeinsame Interesse zwar aufrecht, dieses wird jedoch nicht umgesetzt, weil die passenden Handlungen fehlen.

Im Fall einer Freundschaft: Ein Mensch mit dem ich kaum Kontakt habe und der nicht für mich da sein kann, auch wenn sier es gerne tun würde, ist kein_e Freund_in.

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns? Wer ist der_die Andere? Reden (tief), Unternehmungen, Nacht durchquatschen, Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen, Hobbys, Projekte Gemeinsame Themen, Hobbys, Projekte vorantreiben, Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
Fuckbuddy Sex Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken
2
(schließt 1 aus)
Systemerhalter Überleben Smalltalk,
Gemeinsames Systemerhalten,
Berufsgemeinschaft
1
(schließt alle anderen aus)
Feindschaft Einander Fernbleiben Ausweichen bis Wegweisen bis Vernichten

Natürlich können auch mehrere Ebenen gleichzeitig unvollständig sein, was sich durch ein heftigeres Energieminus bemerkbar macht. Wenn solche großen Energieverluste über Monate hinweg unverändert bestehen, oder sogar mit mehreren Menschen gleichzeitig vorhanden sind, erzeugen sie Vorstadien von psychischen Erkankungen: Konzentrationsschwierigkeiten, extreme Gefühlsschwankungen, Gedächtnisverlust von minutenlangen Zeitabständen, Angstzustände.

Bleibt der Energieverbrauch über eine längere Zeit hinweg im Minus, empfiehlt es sich zu hinterfragen, ob mit diesem bestimmten Menschen tatsächlich die passende Nähe geteilt wird. Bei besonders wichtigen Bezugsmenschen wie einer Liebesbeziehung oder einer Freundschaft kann hier durchaus helfen, sich die Situation mit Coaching oder psychotherapeutischen Methoden genauer anzuschauen.

Ein Zwischenzustand hat zwei Möglichkeiten, stabil zu werden:

  1. Die beteiligten Menschen „füllen“ die unvollständigen Ebenen durch Zusammenarbeit sowie Ausdiskutieren und schließlich Lösen der vorhandenen Konflikte. Dadurch entsteht eine höhere stabile Ebene.
  2. Die beteiligten Menschen „leeren“ die unvollständigen Ebenen, indem sie Handlungen beenden, und/oder sich emotional damit abfinden, dass die gewünschte Beziehungsform oder das Interesse mit dem Gegenüber einfach nicht lebbar ist, und sich als Folge davon zurückziehen. Dadurch pendelt sich der ehemalige Zwischenzustand auf einer niedrigeren stabilen Ebene ein.

Wenn beide Beteiligten einen stabilen Zustand miteinander erreichen wollen, sich aber noch in einem Zwischenzustand darunter befinden, müssen sie Zeit, Energie und emotionale Arbeit investieren, um die gewünschte Ebene in einen stabilen Zustand zu bringen. In diesem Fall ist der erhöhte Energieverbrauch des instabilen Zwischenzustandes ein notwendiges Durchgangsstadium – ein gutes Beispiel dafür ist die Beziehungsarbeit in den (idealerweise) ersten Monaten einer Liebesbeziehung.

Natürlich erfordern auch alle darunterliegenden Ebenen diese Investition:

  • Für eine stabile Ebene 3 müssen die sexuellen Bedürfnisse aller Beteiligten freundlich und höflich verhandelt, und dann im Konsens und fair ausgelebt werden.
  • Für eine stabile Ebene 4 braucht es ein gemeinsames Diskussionsthema oder Hobby, für das es die notwendigen Fähigkeiten, Gegenstände und den Platz geben muss.
  • Eine stabile Ebene 5 benötigt lange tiefe Gespräche über einen längeren Zeitraum mit regelmäßigem Kontakt, um sich als Freund_innen kennenzulernen.

Sobald ein stabiler Zustand erreicht wurde, ändert sich das Energieerlebnis: Die betreffenden Menschen freuen sich, wenn sie sich treffen oder Kontakt miteinander haben, und haben meistens eine genussvolle Zeit miteinander. Sie fühlen sich nach den meisten gemeinsamen Interaktionen oder Gedanken an den anderen Menschen bestärkt und zufrieden.

Eine stabile Ebene produziert zwar überwiegend Energie, ist deswegen aber kein gleichbleibender Zustand und frei von Konflikten. Im Gegenteil, um die Ebene dauerhaft stabil zu halten, müssen die Beteiligten dranbleiben und immer wieder „nachlegen“, sodass die gewünschte Beziehungsform und die gemeinsamen Interessen aufrecht bleiben sowie die Handlungen in einem zufriedenstellenden Ausmaß und Weise passieren.

  • Auf der Ebene 3: Ändern sich sexuelle Bedürfnisse, müssen diese neu besprochen werden.
  • Auf der Ebene 4: Gibt es einen Konflikt über ein gemeinsames Thema, muss er gelöst werden, bis das gemeinsame Thema wieder flüssig läuft. Ist ein Thema weniger interessant, oder wurde ein gemeinsames Ziel erreicht, braucht es ein neues Thema.
  • Auf der Ebene 5: Gibt es in einer Freundschaft nicht mehr genügend Platz, um Gedanken und Gefühle auszutauschen, muss dieser geschaffen werden. Gibt es einen Konflikt, muss dieser gemeinsam ausdiskutiert und geklärt werden.
  • Auf der Ebene 6: Haben die Beteiligten einer Paarbeziehung / eines Polyküls untereinander einen Konflikt, muss dieser gelöst werden, damit sich die Beteiligten in der Gegenwart des/der Anderen wieder wohl fühlen und liebevolle Aufmerksamkeit(en) miteinander teilen können.

Wollte ein Beteiligter oder sogar alle von vorneherein auf keine höhere Stufe, oder will es zumindest jetzt nicht mehr, und beendet alle Erkennungszeichen der unpassenden höheren oder unvollständigen Ebene, fällt der Zwischenzustand nach einiger Zeit auf eine passende niedrigere stabile Ebene: Aus einer Freundschaft wird eine Bekanntschaft, und nach dem Wegfallen des notwendigen gemeinsamen Themas nur noch eine Überlebensgemeinschaft (Ebene 2). Das Zurückfallen auf eine niedrigere Stufe, wenn ursprünglich eine höhere Stufe gewünscht war, ist üblicherweise mit einer gewissen Zeit an emotionalem Schmerz in verschiedenen Größenordnungen verbunden, bis sich der betreffende Mensch mit der neuen, niedrigen Ebene vertraut gemacht hat.

Das Beispiel mit den Nähehandlungen:

Wir haben uns frisch kennengelernt und tauschen Handlungen der Ebene 6 (Schmusen, Küssen, Kuscheln) aus. Diese Handlungen bewirken oder verstärken eine gegenseitige Verliebtheit und einen Beziehungswunsch. Damit ist ein instabiler Zwischenzustand, nämlich eine unvollständige Ebene 6, gegeben. Führen diese Handlungen nicht zu einer Liebesbeziehung, oder gelingt uns eine Liebesbeziehung nur für eine begrenzte Zeit (= Trennung), wodurch der Wunsch danach, das Leben miteinander zu teilen, nicht erfolgreich erfüllt wurde, folgt emotionaler Schmerz. Dadurch fällt unser Verhältnis auf die nächste passende stabile Ebene. Das kann als gemeinsame funktionierende Nähe-Ebene die Ebene 5 (Freundschaft) – natürlich ohne Handlungen der Ebene Liebe – alle Ebenen dazwischen, oder aber in extremen Fällen die Ebene 1 (Feindschaft) bedeuten.

Das Beispiel mit den freundschaftlichen Handlungen:

Wir haben eine (angebliche) Freundschaft (Ebene 5): Daher treffen wir uns regelmäßig und unterhalten uns über unsere Gedanken und Gefühle. Auf einmal erleide ich einen Rückschlag in meinem Leben, etwa eine plötzliche, zu schnelle Änderung meiner Lebensumstände. Darüber würde ich mit dieser Freundschaft gerne reden und mir helfen lassen, mit der neuen Situation umzugehen. Das kann entweder durch tatsächliches Anhören des eigenen Kummers passieren oder durch gemeinsame Unternehmungen, um auf andere Gedanken zu kommen. Diese „Freundschaft“ verweigert mir aber nun die Unterstützung. Nicht aus eigenen ähnlich schwerwiegenden Problemen – das wäre verständlich – sondern aus blankem Desinteresse an meiner Situation. Stattdessen würde sier mit mir lieber:

  • ein gemeinsames Diskussionsthema besprechen (Ebene 4),
  • sich über Belanglosigkeiten unterhalten (Ebene 2),
  • oder mich mit den eigenen Alltagsproblemen volljammern
    (eine Auslagerung der eigenen Probleme auf der Ebene 1).

(Die Ebene 3 ist hier bewusst ausgelassen, da es aufgrund dem Versteckspiel mit der Ebene Lust hunderte Möglichkeiten gibt, wie ein solcher Wunsch indirekt kommuniziert werden kann.)

Dies deutet darauf hin, dass keine stabile Ebene 5 und somit keine Freundschaft (mehr) vorhanden ist. Dieser Mensch ist offensichtlich an einer geringeren Nähe mit mir interessiert – entweder als Bekanntschaft auf der Ebene 4 ein gemeinsames Hobby zu betreiben, oder auf der Ebene 3 Sex zu haben, usw. Da mein Gegenüber das Interesse an einer höheren Ebene, hier einer Freundschaft, teilweise oder gar ganz vorgetäuscht hat, empfinde ich emotionalen Schmerz über diesen Betrug.

Um eine derartige emotionale Verletzung zu verarbeiten, ist auf jeden Fall eine massive Einschränkung des Kontakts oder gar ein Kontaktabbruch über längere Zeit ratsam. Als Resultat fällt die geteilte Näheebene auf Ebene 2 (Überlebensgemeinschaft) oder sogar Ebene 1 (Feindschaft). Wenn sich danach beide Seiten eine höhere Ebene wünschen, kann diese nur nach einem solchen zeitlichen Abstand gesund – also ohne früheren emotionalen Ballast – angestrebt werden. „Gesund“ kann aber genauso bedeuten, mit diesem Menschen niemals wieder eine höhere Ebene als die Ebene 2 zu betreten.

Sobald sich der Zwischenzustand in eine niedrigere stabile Ebene umgewandelt hat, macht sich das durch ein positives Energieerlebnis bemerkbar: Der energiefressende Zustand ist beendet, und die neue, nun stabile Situation hat angefangen, Energie zu produzieren. Der betreffende Mensch fühlt sich erleichtert, beschwingt und ist zufrieden über die soziale Verbindung zu dem anderen Menschen. War das vergangene Energieminus besonders groß, kann der plötzliche Energiegewinn sogar eine wochenlang andauernde kreative Schaffensphase oder den Drang zum Lösen längst anstehender Probleme aus anderen Bereichen (Aufräumen, Sport machen, gesündere Ernährung, usw.) antreiben.

Wie funktioniert eine gesunde Paarbeziehung? – Teil 1/4: Die Ebene 6 auf der Näheskala

Die Nähe, die in Liebesbeziehungen ausgetauscht wird, ist die größte menschenmögliche Nähe. Davon zeugen die zahlreichen Liebesgeschichten, sei es in Form von Märchen, Legenden, Erzählungen oder Liedern, in allen vergangenen und gegenwärtigen Kulturen der Menschheit. Die eurozentrische/westliche Gesellschaft bildet das in ihrer Popkultur ab – in Liedern, Filmen, Serien und Werbung.

Der Ritualsatz einer Hochzeit „In guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod uns scheidet“ steht für eine/mehrere erfüllte Liebesbeziehung/en, die kein Ablaufdatum hat/haben. Die elementare Sehnsucht besteht darin, das Leben miteinander zu teilen, was die größtmögliche Nähe und gemeinsame persönliche Entwicklung möglich macht.

Die anfängliche Verliebtheit in frischen Beziehungen scheint „einfach so“ zu entstehen – und hält üblicherweise zwischen einigen Wochen und Monaten an. Die allermeisten Beziehungen erleben jedoch nach dieser Zeitspanne, dass das Gefühl der Verliebtheit versiegt – und entweder ständigen Konflikten, Langeweile, oder einem „Immerhin bin ich nicht allein. Vielleicht wird’s ja wieder?“ Platz macht. Viele machen an dieser Stelle Schluss, andere bleiben unglücklich zusammen.

Die stabile Ebene Liebe steht allerdings entgegen populären Überzeugungen nicht für die Umwandlung der anfänglichen Verliebtheit in ein „anderes“ Liebesgefühl. Im Gegenteil, ein betreffendes Paar mit einer stabilen Ebene Liebe empfindet auch nach Monaten und Jahren Verliebtheitsgefühle füreinander, und wirkt auf Außenstehende oftmals wie ein frisch verliebtes Pärchen. Dadurch produziert eine stabile Ebene Liebe überwiegend Energie.

Das Geheimnis hinter dieser Entwicklung?

Verliebtheit kann aus den richtigen Zutaten absichtlich hergestellt werden. Alle Menschen in einer schönen Langzeitbeziehung wissen das, oder handeln zumindest instinktiv danach. Es braucht einerseits zwei romantisch kompatible Menschen sowie andererseits bestimmte gemeinsam geteilte Erlebnisse, über die sich beide Beteiligte freuen. Dazu gehören:

  • guter Sex innerhalb der Beziehung (Ebene 3),
  • eine schöne gemeinsame Unternehmung oder eine gelungene Umsetzung eines gemeinsamen Hobbys (Ebene 4),
  • als Haushalt / Haustierhalter / Eltern ein eingespieltes Team zu sein (ebenfalls Ebene 4),
  • empathische Gespräche über Gedanken und Gefühle (Ebene 5),
  • und natürlich Nähehandlungen (Küssen, Kuscheln, miteinander einschlafen) auf der Ebene 6 selbst.

Damit alle diese Ebenen als Beziehung gelingen, müssen alle Beteiligten zu etwa gleichen Anteilen die benötigte Zeit, Energie und Beziehungsarbeit in die Beziehung(en) investieren. Insbesondere die Beziehungsarbeit kann natürlich auch anstrengende Tage bedeuten, in denen Verliebtheitsgefühle nicht unmittelbar zu spüren sind.

Dieser Aufwand zahlt sich jedoch vielfach aus: Denn durch die Klärung der unteren Ebenen können die Beteiligten ihre Verliebtheit stabilisieren, sodass diese auch nach einem heftigen Konflikt verlässlich zurückkommt, bzw. durch die größere Nähe über Zeit sogar noch mehr wird. Solange die Ebene Liebe stabil bleibt, kann die Verliebtheit ein ganzes gemeinsames Leben lang anhalten.

Mitbestimmung ist dabei ein fundamentales Recht von allen Beteiligten innerhalb einer Liebesbeziehung. Denn um das Leben miteinander zu teilen, müssen mit Konsens und Fairness alle Bereiche davon gemeinsam besprechbar sein. Es müssen sich durch Diskussion Vereinbarungen finden lassen, mit denen alle Beteiligten zufrieden sind. Bei Änderung von Bedürfnissen ist natürlich eine Anpassung der Vereinbarungen unter gegenseitiger Mitbestimmung mit Konsens und Fairness erforderlich. Besonders geht es dabei um Lebensentscheidungen, also um Entscheidungen, die auf das gesamte weitere Leben einen Einfluss haben. Dazu gehören:

  • das Sexleben zu zweit
  • die sexuelle Offenheit der Beziehung (= ob und wie die Beteiligten mit anderen Menschen Sex haben)
  • der Wohnort
  • ob Haustiere oder Kinder gewünscht sind, und wenn ja, wie viele
  • die romantische Offenheit der Beziehung (= ob und wie die Beteiligten Polyamorie anstreben)
Beispiele:

Menschen, mit denen ich eine andere Ebene als die Ebene 6 teile, haben kein Mitbestimmungsrecht, wenn es um Lebensentscheidungen geht: Gute Freunde werden zwar traurig sein, wenn ich den Wohnort so wechsle, dass Kontakt schwerer möglich ist, gemeinsam mit ihnen darüber verhandeln muss ich jedoch nicht. Wenn ein_e (angebliche) Freundschaft dennoch bei einer meiner Lebensentscheidungen mitbestimmen möchte (etwa wo ich wohnen möchte oder mit wem ich Sex habe), ist er_sie vermutlich auch in anderen Situationen ein schlechter Freund, da diese Person offensichtlich nicht versteht oder verstehen will, was eine echte Freundschaft ausmacht.

Mein/e Bezugsmensch/en auf der Ebene 6 hat/haben bei diesem Thema aber sehr wohl ein Mitbestimmungsrecht: Wenn ich will, dass unsere Ebene Liebe stabil und energiegebend bleibt, muss ich darüber verhandeln und zu einem Ergebnis kommen, das für alle Beteiligten zufriedenstellend ist. Bei einer Diskussion über einen Wechsel des Wohnortes wären die Möglichkeiten:

  • Liebesbeziehung zieht mit
  • Ich wechsle den Wohnort doch nicht
  • Die Distanz des neuen Wohnortes ist für alle Beteiligten akzeptabel

Wie funktioniert eine gesunde Paarbeziehung? – Teil 2/4: Das Energie-Gleichgewicht innerhalb einer Paarbeziehung

Da die Ebene 6 (Liebesbeziehung) die größte Nähe ermöglicht, können der Energieaustausch und seine Konsequenzen anhand einer romantischen Verbindung am anschaulichsten erklärt werden.

Eine Paarbeziehung kann über zwei Wege Energie produzieren:

  1. Die zwei Menschen des Paares sind frisch verliebt. Solange die Verliebtheit erwidert wird, produziert sie überwiegend Energie. Diese ist sozusagen ein „Energievorschuss“, der dazu gedacht ist, die notwendige Beziehungsarbeit und die damit verbundenen Konflikte am Anfang einer Liebesbeziehung anzutreiben, bis die Beteiligten miteinander eine stabile Ebene Liebe herstellen.
  2. Das Paar findet Lösungen für die vorhandenen Konflikte und erreicht so eine stabile, energiegebende Ebene Liebe, in der die Gewohnheiten der beteiligten Menschen immer wieder neue energiegebende Verliebtheitsgefühle produzieren.

Eine Paarbeziehung kann jedoch genauso überwiegend energiefressend wirken. Dies liegt entweder (hauptsächlich) an einem der beteiligten Menschen, an beiden gleichermaßen, und/oder an der Struktur der Paarbeziehung selbst.

So können viele Situationen eine Paarbeziehung vorübergehend oder dauerhaft schwieriger machen, wie finanzieller Stress, zeitliche Engpässe, Betreuung von Babys und Kleinkindern, sowie eine längere Krankheit oder ein psychisches Problem, das die Zeit und Energie für Sex, emotionale Nähe (tiefe Gespräche) und/oder romantische Nähe (liebevolle Aufmerksamkeit(en), Kuscheln) einschränkt. Da eine chronisch energiefressende Dynamik erst entsteht, wenn ein instabiler Zwischenzustand auf der Näheskala gegeben ist, sind diese Situationen sicher belastend, aber nicht automatisch energiefressend.

Ein einzelner Mensch kann jedoch eine ganze Paarbeziehung im Alleingang energiefressend machen, wenn er_sie eines der obigen Probleme hat, sich aber gleichzeitig weigert, an diesem Problem konstruktiv zu arbeiten. Stattdessen tut sier so, als gäbe es das Problem nicht, findet fadenscheinige Ausreden, jammert das Gegenüber ständig darüber an oder erwartet/fordert von diesem sogar den Löwenanteil der Arbeit an den eigenen Problemen. Der betreffende Mensch gibt mit diesem Verhalten die eigene Verantwortung ab, einen stabilen, energiegebenden Zustand herzustellen oder zu halten. Auf der Ebene, die dieser Mensch verweigert, kommen dann das notwendige Interesse und die dazugehörigen Handlungen eine Zeit lang fast ausschließlich vom Gegenüber.

Um den Unterschied zwischen beiden Situationen zu verdeutlichen, habe ich eine Parabel erfunden:

Mensch A steckt in einem Schlammloch fest. Mensch B geht vorbei und bleibt stehen: Er möchte Mensch A aus dem Schlamm helfen, und streckt eine Hand aus.

Szenario 1: Mensch A ergreift die Hand, lässt sich ein Stück hochziehen, und beginnt zu strampeln und Boden zu suchen, sobald er seine Füße wieder bewegen kann. Langsam findet er am Rand des Schlammlochs immer wieder Halt und kann sich gemeinsam mit dem Zug von Mensch B aus dem Loch befreien. Beide gehen Hand in Hand weg.

Szenario 2: Mensch A ergreift die Hand, und lässt sich hochziehen, macht jedoch keine Anstalten mitzuarbeiten, und hängt wie ein nasser Sack an der Hand des herausziehenden Menschen. Mensch B hält das Gewicht von Mensch A noch eine Zeit lang, aber bald geht ihm die Puste aus. Um nicht selbst auch noch in das Schlammloch zu fallen, lässt er Mensch A los, welcher direkt in seinen alten Platz zurückplumpst, und sucht sich einen neuen Menschen, der entweder nicht so tief in einem Schlammloch steckt, oder der zumindest bereit ist, beim Herausziehen mitzuarbeiten.

Das Schlammloch steht für eine belastende Situation, und der Mensch, der herausziehen hilft, für eine_n (möglichen) Beziehungspartner_in, dier bereit ist, das Gegenüber bei der Lösung oder zumindest einer Verbesserung zu unterstützen. Im ersten Szenario handelt Mensch A konstruktiv: Sier arbeitet selbst an den eigenen Problemen und/oder sucht sich aus eigenem Antrieb, sobald möglich, professionelle Hilfe. Im zweiten Szenario ist Mensch A hingegen der energiefressende Mensch, der das gesamte Beziehungsleben runterzieht. Mensch A lässt damit Mensch B nur die Wahl, durch das ständige Energieminus (ebenfalls) ein psychisches Problem zu entwickeln, wodurch die Beziehung natürlich noch mehr Energie frisst, oder rechtzeitig abzuspringen – also sich zu trennen.

Manchmal erzeugen allerdings nicht die individuellen Menschen, sondern die Struktur der Paarbeziehung den energiefressenden Zustand. Der Grund dafür können einer oder mehrere der folgenden Punkte sein:

  1. Es existiert ein darunterliegender ungelöster Konflikt über die gemeinsamen Wünsche.
  2. Einer_m der Beteiligten fehlt etwas ganz Grundsätzliches: Der Wunsch nach partnerschaftlichem Sex und/oder liebevoller Nähe wird nicht (genug) erfüllt.
  3. Die Beteiligten haben Werte aus der Poly-Szene übernommen und definieren sich als Nebenbeziehung, eine von vorneherein energiefressende Struktur.
  4. Die Beziehung basiert auf einer sekundärmotivierten Verliebtheit: Eigentlich hätten sich die Beteiligten nur Sex zum Spaß miteinander gewünscht.

Natürlich ist es auch möglich, dass sowohl die individuellen Menschen, als auch die Struktur der Paarbeziehung zusammen den energiefressenden Zustand hervorbringen. Oft fühlen sich instabile Menschen sogar von instabilen Strukturen angezogen, weil sie mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen in der Kindheit zu wenige stabile Strukturen erlebt haben und diese ihnen daher Angst machen, nach dem Motto:

„Besser das bekannte Unglück, als das unbekannte Glück.“

Diese Paarbeziehungen werden dann aber meistens so schnell so instabil und energiefressend, dass die Beteiligten die Beziehung innerhalb weniger Monate ausgelaugt haben – und dann entweder in einer De-facto-Trennung koexistieren (Ich möchte sogar sagen: kovegetieren) oder sich tatsächlich trennen.

Auch hier spreche ich aus persönlicher Erfahrung: Mein in Was ist eine Nebenbeziehung? erwähnter Hetero-Ex-Freund vereinte alle Gründe der obigen Auflistung in Personalunion – und war von seiner Lebenseinstellung her auch noch ein Energievampir. Er fraß so viel Energie, dass ich mich nach einem Treffen noch tagelang erschöpft und ausgelaugt fühlte. Ich vermutete die Ursache dieser Erschöpftheit allerdings jedes Mal lokal, also in einem anstrengenden Arbeitstag, zu wenig Schlaf, usw. Als ich nach einigen Monaten begriff, dass hauptsächlich er die Ursache dafür war (und die anderen Umstände kaum), und dass ich aus dem falschen Grund eine Beziehung mit ihm begonnen hatte (Punkt 4), trennte ich mich von ihm.

Wie funktioniert eine gesunde Paarbeziehung? – Teil 3/4: Wann ist (m)eine Liebesbeziehung gesund?

Auf der Näheskala gilt: Eine stabile, energiegebende Ebene Liebe (= Ebene 6) beinhaltet immer die Ebene Lust (= Ebene 3). Nur Asexuelle, die tatsächlich keine sexuelle Regung welcher Art auch immer zu anderen Menschen empfinden, wären von diesem Verhältnis ausgenommen. Da eine aktive Ebene 3 alle darunterliegenden Ebenen ausschließt, ist die Näheskala in den folgenden Beispielen um Ebene 1 und 2 verkürzt.

Wenn zwei oder mehr Menschen Nähehandlungen (Schmusen, Küssen, Kuscheln, Lieb-Streicheln) austauschen und Sex haben, handelt es sich um einen instabilen, energiefressenden Zwischenzustand: Die Ebene 3 für sich wäre stabil, die Ebene 6 ist hingegen unvollständig.

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
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Verlieben sich die beteiligten Menschen in Folge ineinander, und entscheiden sich dafür, dass sie ein Paar sind / eine Beziehung haben, entfernt diese Entscheidung zwar Ungleichgewicht, der instabile Zwischenzustand besteht jedoch weiterhin:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
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Verstärkt sich die Bindung und die beteiligten Menschen gestehen sich ein gegenseitiges Mitbestimmungsrecht bei Lebensentscheidungen zu, das etwa Freunde nicht haben, äußert sich dies auf der Näheskala folgendermaßen:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
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Ein gemeinsames Beziehungsleben, das ausschließlich aus Sex und Kuscheln besteht, wird aber schnell langweilig. Das gemeinsame Bedürfnis „Leben teilen“ enthält deswegen automatisch die Ebene 4 (Bekanntschaft, gemeinsame Projekte) und die Ebene 5 (Freundschaft, tiefgehendes Interesse füreinander). Eine gesunde Liebesbeziehung muss daher mindestens ein gemeinsames Diskussionsthema, Hobby, oder Projekt haben (Ebene 4), als auch ein ehrliches gegenseitiges Interesse an den Gedanken und Gefühlen des Gegenübers (Ebene 5).

Wenn das Paar ein Haustier hat, oder ein Kind großzieht, und sich beide Seiten zu etwa gleichen Anteilen darum kümmern, ist sowohl Tierhaltung, als auch Kindererziehung übrigens ein vollwertiges gemeinsames Projekt im Sinne der Ebene 4.

Sind eine gemeinsame Ebene 4 und eine gemeinsame Ebene 5 zu Anfang einer Liebesbeziehung nicht vorhanden, können zwei Möglichkeiten der Fall sein:

  1. Es handelt sich (wahrscheinlich unbewusst) um eine Verwechslung von Sex und Liebe durch patriarchale Lügenkonstrukte: Die beteiligten Menschen wünschen sich in Wirklichkeit nur Sex zum Spaß auf der Ebene 3 und haben sich sekundärmotiviert verliebt. Die Ebenen 4 und 5 miteinander zu teilen ist also im günstigsten Fall optional, im ungünstigsten Fall überhaupt gar nicht gewünscht.
  2. Die beteiligten Menschen wünschen sich tatsächlich voneinander eine Liebesbeziehung. Allerdings müssen sie das Ausleben aller Ebenen erst gemeinsam entdecken. Dieser notwendige Schritt einer jeden ernsthaften Liebesbeziehung wird allgemein als Beziehungsarbeit bezeichnet – ich sage dazu bildhafter Zusammenraufen.

Wie funktioniert eine gesunde Paarbeziehung? – Teil 4/4: Zusammenraufen (mithilfe der Näheskala)

Die erforderliche Beziehungsarbeit kann unterschiedlich aussehen, je nachdem, wie gut die beteiligten Menschen konstruktive Konfliktbearbeitung in ihrer Lebensgeschichte gelernt haben. Einen wesentlichen Einfluss darauf hat die Konfliktfähigkeit der eigenen Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen während der Kindheit: Menschen, die aus dysfunktionalen Familien stammen, und die sich als Erwachsene keine anderen Vorbilder gesucht und dazugelernt haben, haben meistens überwiegend destruktive Streittechniken verinnerlicht.

So haben Paare, die von vorneherein mit Konflikten gut umgehen können, einfach viele konstruktive Diskussionen, die zwar Energie verbrauchen, aber immer noch Zeit für schöne Momente lassen.

Paare, die das nicht können, entwickeln hingegen eine destruktive Streitkultur, die alle Beteiligten erschöpft und auslaugt. Um eine solche destruktive Streitkultur zu erzeugen, müssen Konflikte nicht unbedingt offen ausgesprochen werden. Wenn eine_r oder alle der Beteiligten Konfliktthemen ständig in sich hineinfressen, anstatt sie auszusprechen, entsteht dadurch ebenfalls ein destruktiver, energiefressender Zustand, weil ja das darunterliegende Problem gar keine Chance bekommt, gelöst zu werden.

Während des Zusammenraufens kann die geteilte Nähe auf der Näheskala so aussehen:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
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Grüne Zelle der Ebene 5:
Das gemeinsame Interesse am Innenleben des Gegenübers ist zwar vorhanden, jedoch geht die Kommunikation darüber derart schief, dass die notwendigen Handlungen dazu nicht stattfinden.

Grüne Zelle der Ebene 4:
Die Handlungen für ein gemeinsames Thema/Projekt werden zwar ausgeführt, jedoch hat eine_r eine andere Vorstellung oder Gewichtung des Projekts, was er_sie unzureichend kommuniziert und/oder was vom Gegenüber ignoriert wird. Das gemeinsame Interesse am Projekt ist dadurch frustriert und nicht (mehr) aktiv.

Im obigen Beispiel wünschen sich alle Beteiligten der Liebesbeziehung grundsätzlich ein gemeinsames Diskussionsthema oder Hobby, und möchten ein freundschaftliches Verhältnis miteinander haben – der Flaschenhals sind die Kommunikation darüber und/oder die Umsetzung dieser Wünsche in konkrete Handlungen. Aus diesem Grund ist das Feld „Beziehungsform“ immer grün.

Das ist allerdings nicht immer der Fall: Manchmal wollen eine_r oder alle der Beteiligten der romantischen Verbindung gar kein gemeinsames Diskussionsthema, oder freundschaftliches Verhältnis (mehr): Das ist ein Problem, da es auch noch die Motivation wegnimmt, auf die Beziehungsform aufbauende gemeinsame Interessen und Handlungen zu finden, und damit einen außerordentlich instabilen Zwischenzustand produziert.

Ob sich die Beteiligten eine bestimmte Beziehungsform wünschen, kann durch eine genaue Betrachtung der verwendeten Bezeichnungen geklärt werden: Sprache schafft Wirklichkeit(en)!

Bei der Ebene 6 ist das eindeutig: Wer sich „Liebesbeziehung“, „Ehepaar“ oder „Paar“ nennt, richtet unbewusst alle dazugehörigen Wünsche an das so bezeichnete Gegenüber.

Die Abhängigkeit von verwendeten Bezeichnungen gilt auch für die Ebenen Bekanntschaft und Freundschaft innerhalb einer Liebesbeziehung. Hier verstecken sich die entscheidenden Bezeichnungen allerdings hinter Situationsbeschreibungen – schließlich sagt niemand, sier sei mit diem Beziehungspartner_in „befreundet“. Dieser Zusammenhang wird erst in Beschreibungen der Beziehung sichtbar, wie:

  • „Meiner Partnerin würde ich nie so viel erzählen, wie meinem besten Freund.“ (= kein Wunsch nach einem freundschaftlichen Umgang innerhalb der Beziehung vorhanden, Zelle „Freundschaft“ bleibt weiß)
  • „Wir haben geheiratet! Ich verbringe mein Leben mit meinem besten Freund!“ (freundschaftlicher Umgang innerhalb der Beziehung vorhanden, Zelle „Freundschaft“ ist grün)

Ebenso gestaltet sich die Ebene Bekanntschaft innerhalb einer Liebesbeziehung:

  • „Mein Partner will seinen Interessen alleine nachgehen. Wenn ich ihn etwas darüber frage, oder ihn begleite, ist er genervt. Er will einfach seine Ruhe.“ (kein Wunsch nach einem gemeinsamen Diskussionsthema oder Hobby innerhalb der Beziehung vorhanden, Zelle „Bekanntschaft“ bleibt weiß)
  • „Jeden zweiten Donnerstag im Monat gehen wir Karten spielen. Und einmal in der Woche musizieren wir gemeinsam. Mit der Arbeit ist das nicht leicht unterzubringen, aber es ist uns wichtig, und wir planen es fix ein.“ (gemeinsames Hobby innerhalb der Beziehung vorhanden, Zelle „Bekanntschaft“ ist grün)

Eine völlständig grüne Ebene 3 bedeutet, dass die Sexualität des Paares überwiegend geil und befriedigend ist. Paare, deren Sexualität aufgrund von Lügenkonstrukten des Patriarchats und/oder misslungener Kommunikation meistens unbefriedigend ist, finden sich in der Realität jedoch leider oft.

Die Näheskala spiegelt das folgendermaßen wieder:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
Fuckbuddy Sex Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken

Grüne Zelle der Ebene 5:
Gemeinsame Gespräche über mehr als Alltagsthemen finden zwar statt, allerdings viel zu selten und oft sekundärmotiviert: „Wenn ich dir bei einem Thema, das dich beschäftigt, zuhöre, mache ich das, damit ich im Eintausch Sex oder Aufmerksamkeit bekomme und nicht, weil mich dein Thema großartig interessiert.“ Diese Sekundärmotivation bedeutet, dass das gemeinsame Interesse der Ebene 5 eben nicht oder zu wenig vorhanden ist.

Grüne Zelle der Ebene 4:
Das Interesse an einem gemeinsamen Thema/Projekt ist zwar auf beiden Seiten vorhanden, allerdings nimmt sich niemand (genügend) Zeit, um es umzusetzen. Daher finden die Handlungen der Ebene 4 nicht statt.

Grüne Zelle der Ebene 3:
Er herrscht ein Konflikt über das Ausleben der Ebene Lust. Eine häufige Situation ist, dass eine_r gemeinsam sexuelle Fantasien ausprobieren möchte, der_die Andere hingegen in einem fixen Schema feststeckt und keine neuen Erfahrungen machen will. Dadurch ist das gemeinsame Interesse an Sex frustriert und die entsprechenden Handlungen passieren seltener und/oder sind weniger lustvoll als noch zu Anfang der Beziehung.

Die folgende Variante ist ebenso möglich und geht davon aus, dass höchstwahrscheinlich vor Beziehungsbeginn bereits eine stabile platonische Freundschaft (= ohne Sex) vorhanden war:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
Fuckbuddy Sex Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken

Wertschätzende Gespräche und freundschaftliches Interesse füreinander sind also gegeben, während das gemeinsame Sexleben und gemeinsame Themen und/oder Hobbys erst miteinander entdeckt und auf eine stabile Ebene gehoben werden müssen. Dieses Paar hat bessere Voraussetzungen als das im oberen Beispiel, die fehlenden Ebenen zu entwickeln: Denn wenn die Möglichkeit zu guten Gesprächen über emotionale Inhalte bereits vorhanden ist, müssen einfach gute Gespräche über Sex und über gemeinsame Themen/Projekte begonnen werden.

Erst wenn durch zufriedenstellende Lösungen für alle Beteiligten die Ebenen 3 (Sex), 4 (Bekanntschaft), 5 (Freundschaft) und 6 (Liebesbeziehung) mit dem/den Menschen in Liebesbeziehung stabil gelebt werden können, handelt es sich um eine stabile, energiegebende Ebene Liebe:

Die Näheskala
Beziehungsform Gemeinsames Interesse Handlungen
6
(inkludiert 3, 4 und 5 immer)
Liebesbeziehung Leben teilen Schmusen, Küssen, Lang umarmen,
Gemeinsam schlafen, Kuscheln
5
(kann 3 und 4 inkludieren,
muss aber nicht)
Freundschaft Wie geht es dir/uns?
Wer ist der_die Andere?
Reden (tief), Unternehmungen,
Nacht durchquatschen,
Probleme anschauen
4
(kann 3 inkludieren,
muss aber nicht)
Bekanntschaft Interessante Themen,
Hobbys, Projekte
Gemeinsame Themen, Hobbys,
Projekte vorantreiben,
Selbsterfahrung
3
(schließt 1 und 2 aus)
Fuckbuddy Sex Sinnlich, Erotisch, Geil, Ficken

Wie funktioniert eine sexuell offene Beziehung? – Teil 2/4: Nieder mit der Monogamie!

Ich trete dafür ein, dass wir den uneindeutigen Begriff Monogamie bzw. monogam als Beschreibung einer Liebesbeziehung abschaffen und ihn durch neue, eindeutige Begriffe ersetzen – die dann die sexuelle und romantische Ausrichtung einer Liebesbeziehung gegenüber anderen Menschen entkoppelt formulieren.

Die Notwendigkeit einer sprachlichen Trennung von sexuellen und romantischen (oder auch: amoren) Wünschen und damit verbundenen Handlungen habe ich in Sex und Liebe: Der große Unterschied! erklärt.

Auf dieser Unterscheidung aufbauend, schlage ich folgende neue Nomenklatur für die Ausrichtung einer Liebesbeziehung vor:

  • Auf der Ebene Lust: sexuell geschlossen oder sexuell offen
  • Auf der Ebene Liebe: romantisch geschlossen oder romantisch offen

Da es in einer Liebesbeziehung immer um die Ebene Liebe und die Ebene Lust gleichzeitig geht, ergeben sich aus diesen vier Begriffen vier mögliche Kombinationen:

  1. Romantisch geschlossen und sexuell geschlossen
  2. Romantisch geschlossen und sexuell offen
  3. Romantisch offen und sexuell offen
  4. Romantisch offen und sexuell geschlossen

 

  1. Romantisch geschlossen und sexuell geschlossen (ersetzt monogam in seiner häufigsten Bedeutung):

Menschen innerhalb einer Liebesbeziehung leben Nähehandlungen nur untereinander aus und sind gleichzeitig zueinander die einzigen Sexualpartner. Wenn die monogame Lüge nicht aktiv ist (!), und beide/alle Menschen tatsächlich temporär oder grundsätzlich kein Bedürfnis nach der Ebene Lust mit anderen Menschen haben, ist dieser Zustand stabil.

Wenn die monogame Lüge hingegen aktiv ist, ist dieser Zustand instabil.

  1. Romantisch geschlossen und sexuell offen:

Menschen innerhalb einer Liebesbeziehung leben Nähehandlungen der Ebene Liebe nur untereinander aus, sexuelle Handlungen der Ebene Lust allerdings auch mit anderen, passenden Menschen (= Swingen). Dieser Zustand ist stabil.

Die nächsten beiden Zustände behandeln romantisch offene Beziehungen. Dazu ein paar Anmerkungen:

Romantisch offen bedeutet, dass Menschen in einer vormals geschlossenen Liebesbeziehung daran interessiert sind, Polyamorie zu leben, und eine/mehrere weitere Liebesbeziehung/en in ihr Leben aufnehmen wollen. Dazu führen sie Nähehandlungen mit passenden Menschen aus.

Dieser Zustand ist von vorneherein instabil. Denn wenn die Möglichkeit besteht, dass noch weitere Menschen auf der Ebene Liebe hinzugefügt werden, leiden die individuellen Ressourcen, das gegenseitige Vertrauen und die mögliche Nähe des Ursprungspärchens oder –polyküls darunter. Kehrt die Beziehung entweder bei Erfolg, Polyamorie zu finden (= meine Geschichte) oder Misserfolg zu einer romantisch geschlossenen Form zurück, pendelt sich wieder ein stabiler Zustand ein.

  1. Romantisch offen und sexuell offen:

Menschen innerhalb einer Liebesbeziehung führen Nähehandlungen und Sex mit neuen Personen aus (= Dating). Sexuelle Handlungen auf der Ebene Lust ohne Nähehandlungen (= Swingen) mit anderen Menschen finden unabhängig davon ebenfalls statt.

Dieser Zustand ist aufgrund der Eigenschaft romantisch offen instabil.

  1. Romantisch offen und sexuell geschlossen:

Menschen innerhalb einer Liebesbeziehung führen Nähehandlungen und Sex mit neuen Personen aus (= Dating). Sexuelle Handlungen ausschließlich auf der Ebene Lust (= Swingen) finden nicht statt.

Die Kombination aus romantisch offen und sexuell geschlossen schafft einen perfekten Nährboden für die polyamore Lüge: Das Ventil der Ebene Lust ist abgedreht, das Ventil der Ebene Liebe aber weit offen. Dadurch können sich die unterdrückten Kräfte der Ebene Lust wesentlich einfacher als im Mainstream über den Umweg der Ebene Liebe ihre Bahn brechen. Wie schon bei der seriellen Monogamie, bewirkt das sekundärmotivierte Verliebtheiten, nun allerdings mehrere gleichzeitig. Das Ergebnis ist dann die seriell-parallele Polyamorie, die kurzfristig zu chronisch instabilen romantischen Beziehungen, mittelfristig zu Trennungen, und langfristig zu psychischen Erkrankungen führt.

Dieser Zustand ist aufgrund der Eigenschaft romantisch offen instabil.

Aus meiner Erfahrung kann ich empfehlen: Wenn schon romantisch offen, dann gemeinsam mit sexuell offen. So können die erwähnten sekundärmotivierten Verliebtheiten vermieden werden, und die ohnehin komplizierten Prozesse eines romantisch offenen Zustands wenigstens in die richtigen Bahnen gelenkt werden.

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