Die Näheskala – Teil 2/3: Das Versteckspiel mit der Ebene Lust (= Ebene 3)

„Aber es ist doch eh klar, dass ich mit meinen Bekanntschaften und Freundschaften keinen Sex habe!“

Das denkst du dir vermutlich nach Die Näheskala – Teil 1/3: Vorstellung des Modells.

Ist das so?

Eine kleine Wiederholung:

Die patriarchale Lüge der Rolle „Frau“ behauptet:

Frauen wollen keinen Sex, sondern nur Liebe.

Die monogame und die polyamore Lüge behaupten beide:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
  2. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.

Alle diese Behauptungen sind Lügenkonstrukte des Patriarchats. Jede dieser Lügen kann von allen Geschlechtern mit allen sexuellen und romantischen Orientierungen eingenommen werden, egal ob Frau, Mann oder ein anderes Geschlecht.

Was sie gemeinsam haben: Das menschliche Grundbedürfnis nach Sex zum Spaß außerhalb einer angebahnten oder bestehenden Liebesbeziehung wird entweder völlig verleugnet oder – wenn es sich nicht mehr verstecken lässt – abgewertet und diskriminiert.

Die Folge davon ist, dass es außerhalb der Swinger_innen-Szene kaum Möglichkeiten gibt, das Bedürfnis nach einer gesunden, für alle Beteiligten funktionierenden Ebene Lust auszuleben. Dazu zählen heimliche Seitensprünge per Definition nicht: Die Tatsache, dass sie vor der eigenen Liebesbeziehung verheimlicht werden müssen, zeigt schon, dass hier etwas gar nicht funktioniert. Außerdem kann mindestens eine_r der heimlichen Affäre den Sex wegen der Heimlichkeit nicht wirklich genießen und/oder fühlt sich danach gegenüber dem_der Beziehungspartner_in nicht unbedingt ausgeglichen.

Im Alltag kann und darf also der Wunsch nach einer geilen, befriedigenden Ebene Lust nicht an ein passendes Gegenüber gerichtet werden:

„Hey, ich find‘ dich geil, möchtest du mit mir Sex haben?“

Und wenn es doch passiert, sorgt die patriarchale Lüge der Rolle „Frau“, die vorrangig Frauen einnehmen, schnell dafür, dass das Gegenüber, das diese Frage gestellt hat, abgewiesen und/oder abgewertet wird – obwohl alle Bedingungen für eine gesunde Ebene Lust erfüllt gewesen wären.

Da es also keinen direkten Weg zur Befriedigung dieser Wünsche gibt, baut die verleugnete Ebene 3 einen Druck auf, der sich über Umwege Bahn bricht: Denn um einfach so mit jemandem Sex zu haben, muss ich mich in diesem System zuerst anbekanntschaften, anfreunden oder sogar verlieben. Dabei ist der ehrliche Wunsch nach diesen oberen Ebenen mit diesem bestimmten Menschen oft gar nicht vorhanden. Daraus ergeben sich dann hässliche Spielchen auf beiden Seiten, die bei ihrem Auffliegen emotionalen Schmerz in verschiedener Größenordnung bewirken – je nachdem, ob der Wunsch nach einer Bekanntschaft, einer Freundschaft oder einer Liebesbeziehung vorgetäuscht wurde.

Das erwähnte „Vortäuschen“ einer höheren Nähe-Ebene passiert allerdings meistens unbewusst, da auch die patriarchalen Lügenkonstrukte – sofern unbearbeitet – im Unbewussten verankert sind. So erkennt der Mensch, der eine dieser Ebenen vortäuscht, wenn überhaupt, erst nach erfolgtem Auffliegen den eigenen Irrtum – das „Verschicken“ des Gegenübers ist dann aber bereits angerichtet. Außerdem haben fast immer alle Beteiligten daran einen Anteil: Denn das Gegenüber spielt oft beim „Verschicken“ mit, weil er_sie sich daraus Vorteile erhofft, und findet danach ebenso eine ungute Situation vor. So täuschen Menschen in der Rolle „Frau“ und der Rolle „Mann“ ein bestimmtes Interesse am Gegenüber vor, während es ihnen um ein ganz anderes Interesse geht. Frauen, die sexuelles Interesse heucheln, um bekanntschaftliche oder freundschaftliche Aufmerksamkeit zu bekommen, nenne ich Entitlement Girls. Männer, die ein bekanntschaftliches oder freundschaftliches Interesse heucheln, um Sex zu bekommen, bezeichne ich als Entitlement Guys.

Disclaimer:

Natürlich kann zwischen zwei Menschen, die miteinander gelegentlich Sex zum Spaß haben, ein Wunsch nach Bekanntschaft, Freundschaft oder – in seltenen Fällen – einer Liebesbeziehung entstehen. Sekundärmotivationen und insbesondere sekundärmotivierte Verliebtheiten können aber nur bei einer geklärten Ebene 3 effektiv ausgeschlossen werden, wodurch die entsprechende Bekanntschaft, Freundschaft oder Liebesbeziehung dann auf einem ehrlichen Fundament zueinander aufgebaut werden kann.

Beispiel: Das berühmte Thema „Können Männer und Frauen Freunde sein?“

Eine Frau und ein Mann sind gute Freunde. Beide sind heterosexuell und finden sich gegenseitig attraktiv („würden den Anderen nicht von der Bettkante stoßen“).

Zu einem Treffen zieht die Frau gerne etwas Hübsches an, mit einem anschaulichen Dekolleté. Der Mann holt sich kurz vor dem Treffen einen runter. Beide handeln dabei aus Gewohnheit: Die Frau denkt beim Zurechtmachen für das Treffen „Ich will halt generell hübsch aussehen“ – wozu sie sich sexy anzieht, liegt hingegen im Unbewussten. Genauso denkt sich der Mann (oder auch die Frau) am Abend zuvor, dass er jetzt gerade geil ist, schaut sich ein paar Pornos an, und befriedigt sich selbst. Dass nicht nur die momentane Geilheit, sondern das bevorstehende Treffen mit ein Grund dafür ist, liegt aber wiederum im Unbewussten.

Beide würden nie auf die Idee kommen, sich gegenseitig einfach so nach Sex im Sinne der Ebene Lust zu fragen. Würde sie jemand Dritter auf die sexuelle Anziehung zwischen ihnen aufmerksam machen, würden sie es beide abstreiten – ziemlich sicher vor anderen Menschen und wahrscheinlich auch vor sich selbst: „Uns geht’s doch nicht um Sex. Wir sind befreundet!!“

In dieser Situation kommt es darauf an, ob die beiden Beteiligten sich tatsächlich voneinander eine Freundschaft wünschen und Sex zum Spaß einfach ein leckeres Gewürz dazu wäre. Oder ob das freundschaftliche Interesse (teilweise oder gar ganz) Mittel zum Zweck ist, um damit sekundärmotiviert doch irgendwie Sex mit dem Gegenüber freizuschalten.

(Hetero- oder bisexuelle) Männer und Frauen können also sehr wohl Freunde sein – allerdings ist diese Freundschaft nur ehrlich, wenn beide Seiten über eine gemeinsame Ebene 3 kommuniziert haben und sie entweder ganz klar aktiv oder ganz klar nicht aktiv ist.