Die Poly-Szene – Teil 2/5: Die polyamore Lüge

Fast alle Menschen im Mainstream fördern die monogame Lüge. Der wichtigste Punkt dabei ist, dass Sex und Liebe nur in einer geschlossenen Paarbeziehung stattfinden sollen. Hat sich dort ein Pärchen gefunden, ist deren romantische Beziehung automatisch sexuell und romantisch geschlossen. Das heißt ebenso automatisch „Stopp“ für weitere Interessenten an einer Person dieses Pärchens, sexuell und romantisch.

Die Poly-Szene ist jedoch aus einer Rebellion gegen den Mainstream hervorgegangen. Absolut alle Rebellionen beginnen mit einer bestimmten Psychodynamik: Wenn der konforme Mainstream nach rechts geht, geht die rebellische Subkultur unter allen Umständen nach links. Wenn also der Mainstream ständig sinnlos erscheinende Grenzen gegen die meisten Formen von Sex und Liebe aufrechterhält, und nur einen winzigen Ausschnitt akzeptabel findet, ist die Strategie der Subkultur daher das exakte Gegenteil: Alle Grenzen weg! Freie Liebe! Nie mehr Schule…äh…Unterdrückung! etc.

Deswegen lehnt die Poly-Szene nicht nur die problematischen, sondern überhaupt alle Überzeugungen und Ideen ab, die ihren Ursprung im heteronormativen Mainstream haben.

Nun ist ein Teil schon richtig: Es gibt beim Thema Sex und Liebe sehr wohl viele sinnlose Grenzen. Beispiele für solche sinnlosen Grenzen sind:

  • viele sexuelle Fantasien und Spielarten als „kein Sex“ oder „kein richtiger Sex“ zu sehen,
  • dass ausschließlich eine Frau, ein Mann sowie deren Kinder eine „Familie“ oder „eine richtige Familie“ sind,
  • Homosexualität abzulehnen, was erst seit kurzem und nur in wenigen Teilen der Welt von der Mehrheit der Bevölkerung als sinnlose Grenze erkannt wird.

Im Eifer des Gefechts hat die Poly-Szene wie fast jede rebellische Subkultur jedoch übersehen, dass nicht alle Grenzen sinnlos oder Schikane sind. Am Ende der Hinterfragung von Grenzen bleiben immer noch einige sinnvolle Grenzen und Regeln übrig, die für einen gesunden Umgang miteinander zwingend notwendig sind. Das wichtigste Beispiel dafür sind Verhaltensregeln zur Herstellung von Konsens und Fairness, zum Zweck der Vermeidung von Übergriffen und Gewalt.

Genauso verhält es sich mit romantischen Beziehungen:

Die automatische Einführung von sexuell geschlossen für eine Beziehung im Mainstream ist eine sinnlose Grenze, die tatsächlich immer und egal wo ein Problem macht, indem sie die Ebene Lust unterdrückt, was die Lügenkonstrukte des Patriarchats hervorbringt.

Die automatische Einführung von romantisch geschlossen ist hingegen eine sinnvolle Grenze, da ein frisches Pärchen auf der Ebene Liebe nur so die Zeit, Energie und emotionale Sicherheit zur Verfügung hat, um gegenseitiges Vertrauen und ein gemeinsames Leben aufzubauen und aufrechtzuerhalten, was eine liebevolle, energiegebende, also gesunde, Paarbeziehung überhaupt erst möglich macht.

Aus diesem Logikfehler hat sich innerhalb der Poly-Szene ein komplett neues Lügenkonstrukt entwickelt: Ich nenne es die polyamore Lüge. Es ist eine Abwandlung der monogamen Lüge – was, verglichen mit der Vehemenz, mit der sich regelmäßige Besucher_innen von Poly-Veranstaltungen von „der Monogamie“ abgrenzen, eine interessante Verwandschaft darstellt.

Zum Vergleich:

Die monogame Lüge behauptet:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
  2. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
  3. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
  4. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, sich in jemand Anderen zu verlieben.

Die polyamore Lüge teilt nun die ersten zwei Punkte mit der monogamen Lüge als gemeinsame Lügen. Lediglich ihr dritter Punkt ist eine neue Erfindung.

Die polyamore Lüge behauptet:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
  2. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
  3. Wenn sich jemand innerhalb einer Liebesbeziehung in einen neuen Menschen verliebt, muss daraus zwingend eine neue, zusätzliche Liebesbeziehung entstehen. Der Mensch in der Ursprungsbeziehung hat diese Entwicklung unter allen Umständen gutzuheißen und zu fördern.

Die Anwendung der polyamoren Lüge in einer Liebesbeziehung sieht nun folgendermaßen aus:

  1. Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.

Ein Mensch in der Liebesbeziehung findet andere Menschen geil und würde mit diesen gerne sexuelle Erlebnisse anstreben.

  1. Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.

Dieser Mensch verschwurbelt nun – meistens unbewusst (!) – aufgrund der gemeinsamen Lügen sein eigenes Bedürfnis:

Um Sex allein kann es nicht gehen. Denn einen sexuellen Wunsch zu haben bedeutet ja, automatisch auch einen romantischen Nähewunsch auszudrücken. Außerdem nervt die ständige Notwendigkeit zur Verheimlichung. Warum können wir nicht „einfach so“ … ?

Damit beginnt der Mensch, der andere Menschen außerhalb der Liebesbeziehung sexuell begehrt, sich in einen neuen Menschen, den er_sie gerade geil findet, zu verlieben.

Die Begründung dieser Lüge ist dabei kreativer als im heteronormativen Mainstream: Sex zum Spaß (= Swingen) ist nicht einfach nur „grauslig“, sondern „emotional kalt“ oder „mechanisch“. Nur Sex mit Küssen und Kuscheln, also Nähehandlungen wie in einer Liebesbeziehung, wäre „wirklich“ erfüllend.

Mit der dritten Lüge unterscheidet sich die polyamore Lüge von der monogamen Lüge.

Monogame Lüge:

  1. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
  2. Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, sich in jemand Anderen zu verlieben.

Diese Lügen wurden dekonstruiert: Es ist nämlich nicht nur in einer kriselnden, sondern auch in einer schönen, gesunden Liebesbeziehung sehr wohl möglich:

  • jemand Anderes geil zu finden (was jeder Mensch, der_die Pornos oder Sexszenen schaut, oder Erotika liest, auch ständig tut),
  • oder sich in jemand Anderes zu verlieben.

Diese Gefühle haben nichts mit der Existenzberechtigung der bestehenden Liebesbeziehung zu tun – sie zeigen einfach an, dass ein weiterer für das Bedürfnis (möglicherweise!) kompatibler Mensch vorhanden ist – genau wie wenn der betroffene Mensch Single wäre.

Anstatt mit einem funktionierenden Konstrukt wurden diese Lügen allerdings durch eine neue Lüge ersetzt:

Polyamore Lüge:

  1. Wenn sich jemand innerhalb einer Liebesbeziehung in einen neuen Menschen verliebt, muss daraus zwingend eine neue, zusätzliche Liebesbeziehung entstehen. Der Mensch in der Ursprungsbeziehung hat diese Entwicklung unter allen Umständen gutzuheißen und zu fördern.

Die Grundstimmung ist also im Gegensatz zum Mainstream romantisch offen: Alles ist möglich; Beziehungsgeflechte können mit jeder neuen Verliebtheit um einen neuen Menschen erweitert werden. Manche definieren als Grenze für die Anzahl der Beziehungspartner_innen wieviele sie in der eigenen Freizeit unterbringen können, während andere nach dem Motto je mehr, je besser zusätzliche Beziehungen eingehen.

Ein weiterer Ausdruck sind die sogenannten Kuschelhaufen: Mehrere Menschen, die sich spontan kennengelernt haben, legen sich auf die auf Poly-Veranstaltungen obligatorische weiche Unterlage – üblicherweise ein großer Teppich oder eine Matratze, und beginnen, Nähehandlungen auszutauschen. Die beteiligten Menschen legen sich mit Körperkontakt nebeneinander oder in Löffelchenstellung, und streicheln, umarmen, kuscheln, und küssen sich. Nach kurzer Zeit versinken alle in einem Schnurrzustand. Ab und zu wird rotiert, damit jede_r im Kuschelhaufen einmal mit allen gekuschelt hat. Das kann stundenlang so gehen, denn nicht selten schlafen dabei alle aufeinander ein. Oft kommen auch noch neue Menschen nach, und legen sich dann auf die vorhandenen.

Alle diese Handlungen (inklusive aufeinander gekuschelt einzuschlafen), vermitteln auf einer unbewussten Ebene die größte Nähe, die zwischen Menschen möglich ist – die einer Liebesbeziehung. Wie gesagt, diese Menschen haben sich aber gerade erst kennengelernt. Bewusst sind sich alle also nahezu fremd, unbewusst wird die größtmögliche Nähe kommuniziert. Dieser Widerspruch macht sich allerdings nicht sofort bemerkbar. Alle Beteiligten beschreiben in und direkt nach einem Kuschelhaufen einen Glückszustand – wie ich selbst erlebt habe, folgt einige Stunden später jedoch ein massiver emotionaler Kater mit Symptomen einer Depression. Dagegen hilft natürlich der nächste Schuss…äh…Kuschelhaufen. Und tatsächlich beschreiben Menschen, die MDMA genommen haben, einen ähnlichen Gefühlsverlauf. Die Menschen, die regelmäßig in Kuschelhaufen liegen, haben so ein erhöhtes Risiko, ein Suchtverhalten zu entwickeln, auf das oftmals weitere psychische Probleme folgen.