Die Poly-Szene – Teil 4/5: Was ist Lovebombing? oder: Verlasst die Poly-Szene!

Ein Mensch ist innerhalb einer Gruppe (Berufsgemeinschaft, Bekanntenkreis, Freundeskreis, Gesellschaft) nicht nur steuerbar, indem alle unerwünschten Verhaltensweisen „bestraft“ werden, bis derjenige Mensch diese unterlässt. Die zweite genauso erfolgreiche Methode ist Lovebombing: Alle erwünschten Verhaltensweisen eines Menschen mit übertriebener Zuneigung und übertrieben positiver Aufmerksamkeit zu „belohnen“. Diese Formen der Zuneigung sind dabei sekundärmotiviert: Das Interesse der ausführenden Menschen ist keine gemeinsame Freundschaft oder gar Liebesbeziehung, was die Zuneigung vermittelt, sondern eine Steuerung und Manipulation des angepeilten Menschen.

Jener Mensch fühlt sich dadurch von der Gruppe aufgehoben und in besonderer Weise angenommen. Über diesen Weg können aber Verhaltensweisen eingeschleust werden, die nur bestimmten Menschen in der Gruppe nützen und dem angepeilten Menschen nichts nützen oder sogar schaden. Wenn nun dieser Mensch eigene Impulse ausleben will, die der Gruppenphilosophie widersprechen, oder ganz einfach Handlungen macht, die für die Ziele der Gruppe nicht ausnutzbar sind, wird die positive Zuwendung als Druckmittel benutzt:

„Wir haben uns alle so lieb. Du uns doch auch, oder?!“

Widerspricht der Mensch den geforderten Verhaltensweisen weiter, wird er_sie ab einem Punkt komplett fallengelassen und es werden absolut alle Formen von positiver Zuwendung – auch die, die nicht manipulativ sind – entzogen. Im Extremfall wird der Mensch dann sogar zum „Feind“ der Gruppe erklärt – eine typische Dynamik von konservativen Religionen und religiösen Sekten.

Hier ist anzumerken, dass Lovebombing innerhalb einer Gruppe meist ein unbewusstes Verhaltensmuster ist. Nur Menschen, die bereits ein fundiertes Wissen in derartigen Psychodynamiken haben, können einen solchen Gruppendruck bewusst und absichtlich erzeugen – welcher freilich nur umgesetzt werden kann, wenn es genug Mitläufer_innen gibt, die so einen „Führer“ unkritisiert walten lassen.

Mein eigenes polyamores Beziehungsleben wurde erst ab dem Zeitpunkt dauerhaft energiegebend und schön, als wir eine romantisch geschlossene Triade wurden und mit dieser Entscheidung gemeinsam aus der polyamoren Lüge und ihren energiefressenden Dynamiken ausstiegen.

Als ich die Neuigkeit meinen (angeblichen) Freundschaften und (angeblichen) guten Bekanntschaften auf Poly-Veranstaltungen mitteilte, schlug die Stimmung von einer Sekunde auf die andere um: Viele Menschen starrten mich feindselig an, einige zeigten sogar mit dem Finger auf meine Freundin, meinen Freund, und mich, um dann angewidert zu schauen und zu tuscheln. Menschen, die mich zuvor bei jedem Treffen freudig begrüßt hatten, schnitten mich plötzlich, oder gingen mir gleich aus dem Weg.

Teilweise wurden wir sogar offen angefeindet: Menschen versuchten uns in Triaden- oder in Pärchenformation aktiv auseinander zu bringen, um damit wieder die ursprüngliche romantische Offenheit, also unsere Verfügbarkeit für romantische Annäherungen, herzustellen. Dies geschah durch Aufforderung, nicht beieinander zu sitzen, nicht so viel „Pärchen-Getue“ zu zeigen (weil das „triggern“ würde – ja, sicher…), während dieselben Menschen ähnliches Pärchenverhalten bei anderen Menschen nie als Problem gesehen oder sogar „süß“ gefunden hatten.

Meine Freundin und ich bekamen eine Sonderbehandlung von sich als Traumprinzen gerierenden Männern: Sobald unser Freund sich auch nur wenige Meter von uns entfernt hatte, stand sofort einer dieser Männer zwischen uns, in einer Geschwindigkeit, dass er wohl gerannt sein musste. Ein Mann, mit dem ich zuvor in einigen Kuschelhaufen gelegen war, wartete, bis Nemo Getränke holen ging, und schlich sich dann an mich heran, um mich plötzlich von hinten zu umarmen (was er noch nie zuvor getan hatte), offensichtlich als eine „Das ist meins“-Geste an meinen Freund.

Mein Freund wurde von Männern in der Poly-Szene besonders offen angefeindet – nicht nur durch das übliche Wegdrängen, sondern auch durch abwertende Bemerkungen. Offenbar wurde er als der alleinige Grund wahrgenommen, dass ich nicht mehr romantisch ansprechbar war und daher nicht mehr an „Kuschelhaufen“ teilnahm. Dass meine Freundin oder ich uns genauso bewusst für unsere Konstellation und romantisch geschlossene Ausrichtung entschieden haben – was wir immer wieder betonten – das war ganz offensichtlich uninteressant. Der Gedankengang wird aufgrund der (großteils) unbewussten Frauenverachtung wohl gewesen sein:

„Das sind zwei hübsche Frauen, und auch noch bisexuell. Wieso reden die so viel, anstatt *mich* toll zu finden?“

Im Laufe meines Jahres in der Poly-Szene waren einige regelmäßige Veranstaltungen und private Zusammenkünfte zusammengekommen, zu denen ich immer eingeladen war, und wo sich Leute im Vorfeld erkundigten, „ob ich eh wieder dabei sei“. Als ich meine Freundin und meinen Freund als meine „plus 2“-Begleitungen mitbringen wollte, und diesbezüglich nachfragte, waren sie nicht eingeladen. Ich erhielt jedoch die Rückmeldung, dass ich alleine gerne kommen könne, zu, richtig, einer Veranstaltung einer Szene über mehrfache Liebesbeziehungen. Von anderen Veranstaltungen erfuhr ich plötzlich keine neuen Termine mehr, weil, wie ich später herausfand, die Gastgeber beschlossen hatten, dass ich „nicht dazupassen würde“.

Aufgrund dieser Erfahrungen zogen wir uns von Poly-Veranstaltungen zur Unterhaltung zurück, und besuchten nur noch eine Selbsterfahrungsgruppe für Polyamorie, an der wir bereits vor unserem Kennenlernen teilgenommen hatten. Doch kurz nachdem wir als Triade auftraten, hatte die Gruppe mit freier Platzwahl plötzlich ein Kartenziehsystem, um Menschen Plätze zuzuteilen. „Damit nicht immer dieselben nebeneinander sitzen“, bemerkte der Leiter mit einem Seitenblick auf uns, der bisher mit den immer nebeneinander sitzenden Paaren nie ein Problem gehabt hatte.

Einige (angebliche) Freunde versuchten mich im Gespräch zu überzeugen, dass mich meine neue geschlossene Beziehungsstruktur in meiner „Freiheit“ einschränken würde, und vermuteten hinter meiner Entscheidung eine Erpressung von Maitri und (vor allem) Nemo. Das war für mich der entlarvenste Moment: Ausgerechnet die Menschen, die mich ein Jahr lang umschwärmt hatten, und jetzt wie eine heiße Kartoffel fallen ließen, wollten mir einreden, dass mich Maitri und Nemo, die meine Gefühle eindeutig erwidert hatten, mich von Anfang an fair behandelt, und mich gepflegt hatten, als ich krank war, unterdrücken und ausnutzen würden.

So wurde sichtbar, dass offensichtlich keine_r der Menschen, die ich aufgrund ihrer vermeintlich freundlichen Handlungen über Wochen und Monate hinweg als gute Bekannte oder sogar Freunde eingestuft hatte, ihr Interesse oder ihre Zuneigung ernst gemeint hatten. Stattdessen war ich auf Lovebombing hereingefallen, wodurch ich als junge, attraktive, tolerante Frau für feige Hetero-Männer Aufmerksamkeit und Sex liefern sollte, ohne dasselbe von ihnen als Gegenleistung zu erhalten.

Ich habe seitdem die Poly-Szene verlassen und kann jedem Menschen nur raten, schleunigst das Weite vor dieser Unglück fördernden Subkultur zu suchen!

Update, August 2020:

Die australische Musikerin Tones and I hat das Lied Ur So F**king Cool herausgebracht. Obwohl Polyamorie im Lied nicht vorkommt, beschreibt es in Text und Video sehr treffend meinen Eindruck der Poly-Szene: