Wie funktioniert gesunde Polyamorie? – Teil 1/4: Sinnvolle Grenzen
In den Artikelreihen über die Poly-Szene und deren Herzgespinste, also falsche, destruktive Ideen über Polyamorie, habe ich die wesentlichen Ideen und Verhaltensweisen beschrieben, die energiefressende Dynamiken produzieren – also unter welchen Bedingungen Polyamorie langfristig nicht funktioniert. Wie ein Polykül (= ein polyamores Beziehungsgeflecht) für alle Beteiligten gesund und langfristig funktionieren kann, habe ich durch meine persönliche Erfahrung mit meinen beiden Lieben herausgefunden.
Da wir kein gesundes Vorbild, weder persönlich noch in den Medien, für unsere Konstellation hatten, mussten wir alle Grundlagen in diesem neuen Territorium selbst ausprobieren, überprüfen, und anwenden. Durch unseren Lernprozess enttarnten wir die meisten der verbreiteten Überzeugungen rund um Polyamorie als Glaubenssätze, die in der Praxis nicht funktionieren und entfernten sie darauf in mehreren Schritten aus unserem Leben. Dadurch blieben die positiven Verhaltensweisen entweder übrig, oder wir hatten endlich Zeit und Energie, um uns auf die aktive Suche nach neuen positiven Verhaltensweisen zu machen, die in der Poly-Szene nicht einmal vorkommen.
Wie wir entdeckt haben, drehen sich alle Grundlagen gesunder Polyamorie um die Vereinbarung von sinnvollen Grenzen. Interessanterweise gilt dies genauso für eine gesunde Paarbeziehung zu zweit:
- Gleichberechtigte Beziehungen = keine hierarchische Polyamorie:
Alle Beteiligten des Polyküls müssen bei den gemeinsamen Ressourcen und den Lebensentscheidungen der Beziehungspartner_innen die gleichen Mitbestimmungsrechte haben. - Alle Lebensentscheidungen müssen einen klaren Zweck („Wozu wollen wir das?“) haben und von allen Beteiligten im Konsens beschlossen werden, bevor irgendetwas davon in der Praxis umgesetzt wird. Dazu gehört auch die Entscheidung, romantisch offen zu werden, also noch jemanden auf der Ebene Liebe in das Paar/Polykül aufzunehmen.
- Das Polykül muss nach einer bestimmten Zeit romantisch geschlossen werden und bleiben, damit die beteiligten Paarbeziehungen energiegebend werden und bleiben.
Solange eine Paarbeziehung / ein Polykül romantisch offen ist, also jederzeit neue Menschen angehängt werden können, herrscht eine ständige Verunsicherung, ob der geliebte Mensch dauerhaft Zeit und Energie für die Beziehung haben wird. Kommen tatsächlich neue Verliebtheiten hinzu, sorgt der erhöhte Bedarf an Zeit, Energie und emotionaler Arbeit, also das Poly-Zeitproblem, bald dafür, dass – wie befürchtet – nicht genügend Zeit und Energie für die Ursprungsbeziehung übrig bleiben. Manche versuchen durch Hierarchie, also mit Haupt- und Nebenbeziehung oder als solo-poly, die Verunsicherung ihren Beziehungen zu erleichtern, während andere ihr Polykül einfach so erweitern.
Die Folge ist jedoch dieselbe: Bald wird eine der romantischen Verbindungen als Nebenbeziehung oder über den miauenden Hund instabil und energiefressend. Daraus entsteht oft die Dynamik der Verschobenen Grenzen, welche die bestehenden Konflikte und emotionale Arbeit auf alle Beziehungen im Polykül überträgt, was die bestehenden Probleme zusätzlich verkompliziert. Außerdem tun sich die meisten Menschen schwer, einer frischen Verliebtheit zu widerstehen, weswegen die Beteiligten neue Verliebtheiten sehr einfach räumlich, zeitlich oder emotional als „Ausweichmöglichkeit“ vor der notwendigen Beziehungsarbeit in einer bestehenden Beziehung benutzen. Meistens endet das Ganze nach mehreren Monaten in emotionalen Verletzungen und Liebeskummer – und beginnt im seriell-parallelen Durchlauferhitzer wieder von vorne…
Wie ich aus meiner persönlichen Erfahrung weiß, verlieren alle diese energiefressenden Dynamiken mit einer Vereinbarung ihren Antrieb – der Vereinbarung, romantisch geschlossen zu werden. Diese kann entweder temporär oder vollständig sein.
Allerdings werten die meisten Menschen in der Poly-Szene romantisch geschlossene Beziehungskonstellationen ab, und vertreiben aktiv Menschen in romantisch geschlossenen Beziehungen aus der Szene.
Interessanterweise hat sich in der amerikanischen Poly-Szene trotzdem ein Wort für eine temporäre Maßnahme etabliert: Ein Mensch, der früher romantisch offen war, momentan jedoch keine weiteren Beziehungen will (meistens aus Zeitgründen oder wegen akutem Drama im Polykül) ist polysaturated, also polygesättigt.
Unser Vorschlag einer temporären Maßnahme geht jedoch weiter: Sie ist als Auszeit gedacht, um den eigenen Wunsch nach Polyamorie tiefgreifend zu hinterfragen, und zwischen allen Menschen des bestehenden Paares oder Polyküls Beziehungsarbeit zu betreiben. Passiert dies nicht, kommen die energiefressenden Dynamiken nach dem Ende einer temporären Vereinbarung nämlich wieder unverändert zurück. Bei einer vollständigen Vereinbarung hingegen klingen ebenjene destruktiven Dynamiken ab, und bleiben danach ganz aus.
- Temporär:
„Wir bleiben für eine bestimmte Zeit romantisch geschlossen und versuchen währenddessen herauszufinden, ob es wirklich darum geht, einen neuen Menschen zu lieben (Primärmotivation), oder ob unserer vorhandenen Beziehung etwas fehlt, dass wir uns bei anderen Menschen holen wollen (Sekundärmotivation)“ - Vollständig:
„Wir wollen ab jetzt romantisch geschlossen unsere Leben miteinander verbringen. Solange wir zusammen sind, wollen wir an dieser Vereinbarung nie wieder etwas ändern.“
Wie schnell sich ein stabiler, energiegebender Zustand einstellt, liegt dabei an der Zeit, Energie und Bereitschaft zur Beziehungsarbeit aller Beteiligten. Wer (so wie wir) Vollgas mehrmals pro Woche prozessiert (= stundenlang Konflikte lösungsorientiert bespricht), und die Ergebnisse sofort anwendet, wird die destruktiven Dynamiken nach einigen Wochen los. Wer sich etwa nur am Wochenende sieht, und nur dann Beziehungsarbeit betreibt, braucht vermutlich einige Monate. Und wer möglichst wenig Beziehungsarbeit machen möchte, sollte gar nicht erst polyamor zu leben beginnen 😉