Wie funktioniert eine sexuell offene Beziehung? – Teil 1/4: Voraussetzungen
An wen richtet sich der Artikel?
Die Ausgangssituation:
Ihr seid in einer monogamen (= sexuell geschlossenen) Liebesbeziehung. Ihr habt nie großartig darüber geredet, ob ihr tatsächlich sexuell geschlossen leben wollt – es ist einfach die Vorlage, die euch eure Eltern und euer Umfeld vorgelebt haben und die ihr automatisch übernommen habt. Aber da gibt es diese Fantasien, bei der Selbstbefriedigung oder beim Tagträumen, wenn dir/euch fad ist…
Als Frau in einer Hetero-Beziehung:
Du findest einen eurer gemeinsamen Freunde scharf und würdest gerne mal wissen, wie sein Schwanz aussieht oder wie er dich in einer sexuellen Situation geil machen würde.
Oder du würdest gerne personenunabhängig einen anderen Schwanz ausprobieren, einfach für die Abwechslung.
Oder du findest die neue Freundin von dem einen Bekannten scharf. Normalerweise stehst du nicht auf Frauen, aber sie hat so hübsche Brüste, das wäre doch geil, sie mal nackt zu sehen oder anzufassen.
Oder du würdest personenunabhängig gerne mal wissen, wie sich Sex mit einer anderen Frau anfühlt.
Als Mann in einer Hetero-Beziehung:
Du findest eine Frau in eurem Bekanntenkreis scharf und würdest gerne mal wissen, wie sie nackt aussieht oder wie sich ihre Pussy anfühlt, wenn du sie fickst.
Oder du würdest gerne personenunabhängig andere Brüste und eine andere Pussy ausprobieren, einfach für die Abwechslung.
Oder du hast früher mal gemeinsam mit Freunden gewichst. Ihr hattet zwar keine Frauen dabei, aber irgendwie geil war das schon. Wie wäre das jetzt gemeinsam mit einer Frau?
Oder du möchtest personenunabhängig gerne mal einen anderen Schwanz anfassen, einfach um zu wissen, wie sich das anfühlt.
Als Frau in einer lesbischen Beziehung:
Du findest eine eurer gemeinsamen Freundinnen scharf und würdest gerne mal wissen, wie ihre Pussy aussieht oder wie sie dich in einer sexuellen Situation geil machen würde.
Oder du würdest gerne personenunabhängig den Körper einer anderen Frau ausprobieren, einfach für die Abwechslung.
Oder du findest den einen Mann im Bekanntenkreis scharf. Normalerweise stehst du nicht auf Männer, aber hübsch ist er schon, und das wäre doch geil, ihn als biologischen Dildo auszuprobieren.
Oder du würdest personenunabhängig gerne mal wissen, wie sich Sex mit einem männlichen Körper anfühlt.
Als Mann in einer schwulen Beziehung:
Du findest einen eurer gemeinsamen Freunde scharf und würdest gerne mal wissen, wie sein Schwanz aussieht oder wie ihr miteinander ficken würdet.
Oder du würdest gerne personenunabhängig einen anderen Schwanz ausprobieren, einfach für die Abwechslung.
Oder du findest die neue Freundin von dem einen Bekannten scharf. Normalerweise stehst du nicht auf Frauen, aber sie hat so hübsche Brüste, das wäre doch geil, sie mal nackt zu sehen oder anzufassen.
Oder du würdest personenunabhängig gerne mal wissen, wie sich Sex mit einem weiblichen Körper anfühlt.
Ob hetero-, homo- oder bisexuelle Fantasien, die Gemeinsamkeit ist: Mit Beziehungsarbeit und lösungsorientierter Kommunikation sind alle diese Fantasien ohne Verheimlichung innerhalb einer schönen, stabilen Liebesbeziehung auslebbar – und zwar scheißegal, was euer Freundeskreis, euer Bekanntenkreis, eure Szene, eure Eltern oder eure Verwandten (sollten sie es je erfahren) davon halten!
Ihr wünscht euch also erotische Erlebnisse und Sex zum Spaß mit anderen Menschen. Die Bezeichnung dafür lautet Swingen. Swinger_innen sind demnach Menschen, die genauso wie ihr ihre Ebene Lust innerhalb und außerhalb ihrer gegenwärtigen Liebesbeziehung(en) ausleben wollen.
Und wie geht das jetzt?
- Plant immer wieder Termine, an denen ihr zu zweit und ungestört miteinander reden könnt.
- Erzählt euch gegenseitig eure sexuellen Fantasien.
- Benennt Gefühle, die aufkommen, wenn ihr von den sexuellen Fantasien des Gegenübers hört:
„Besonders geil finde ich, wenn…“
„Das macht mir Angst, weil…“
„Es macht mich wütend, wenn…“ - Benennt Ängste und redet darüber:
„Ich habe Angst, wenn du…machen wirst, dass dann…passiert.“ - Erfindet Szenarien, wie ihr eure Fantasien gemeinsam ausleben könnt:
„Stell dir vor, [scharfer Mensch] kommt zu Besuch und wir machen dann gemeinsam…“ - Erzählt sie euch beim Sex und macht euch damit gegenseitig geil.
Allerdings funken an diesem Punkt bereits die verinnerlichten, unbewussten Lügenkonstrukte der westlichen Gesellschaft dazwischen:
Ein beliebter Anfänger_innenfehler ist nämlich, nicht zwischen Sex und Liebe zu unterscheiden, und diese sehr verschiedenen Bedürfnisse als dasselbe zu behandeln. Als Folge davon vermischen viele Menschen Nähehandlungen (Küssen, Kuscheln, Schmusen, Lieb-streicheln) der Ebene Liebe (= Näheskala-Ebene 6) und sexuelle Handlungen der Ebene Lust (= Näheskala-Ebene 3).
Während beide Handlungen gleichzeitig innerhalb einer Liebesbeziehung kein Problem sind, produzieren sie eines mit Menschen, mit denen ihr eben keine weitere Beziehung, sondern einfach Spaß haben wollt. Um emotionale Turbulenzen zu vermeiden, macht Nähehandlungen daher ausschließlich zwischen euch als Liebesbeziehung. Mit anderen Swinger_innen tauscht ganz bewusst nur Handlungen der Ebene Lust aus. Wenn ihr andere Swinger_innen seht, die Nähehandlungen austauschen, sind das ziemlich sicher Pärchen / Polyküle, die das wie ihr auch nur untereinander machen – oder Paare, die ihr nicht wiedersehen werdet, weil sie kurz darauf in eine Beziehungskrise geschlittert sind.
Das fängt bereits bei sexuellen Fantasien an: Wenn ihr euch gegenseitig Geschichten erzählt, in denen Oralsex und spielerisch raufen mit anderen Menschen vorkommt – wunderbar, ihr erkundet gerade eure Ebene Lust. Macht ihr daraus hingegen Küssen und Kuscheln mit anderen Menschen, habt ihr eine Vermischung mit der Ebene Liebe, die euch noch viele Probleme machen wird.
„Aber dann ist Sex zum Spaß ja total mechanisch und gefühlskalt…dürfen wir andere Menschen nur an den Geschlechtsorganen anfassen?!“
Nein. Zu einer vollständigen Ebene Lust gehört (hoffentlich!) ja mehr als genitale Stimulation von einem mechanisch handelnden Menschen. Solltest du von so einem Erlebnis gehört haben oder eines erlebt haben, war es ganz einfach schlechter Sex.
Mit anderen Swinger_innen kannst du erotische Massagen, Muskeln am ganzen Körper aufmassieren, Geil-streicheln, Dirty Talk, Ausgreifen (lassen), Sich-gegenseitig-zusehen und vielleicht sogar etwas Spanking teilen. Und in dieser Auflistung war noch gar nicht die Rede von gemeinsamer Selbstbefriedigung, Handjobs, Fingern, Lecken, Blowjobs, Ficken, Sexspielzeuge, Vibratoren, … und das Ganze noch in der Gruppe mit einem anderen Pärchen oder mehreren Menschen…
Und, bei der Vorstellung geil geworden? 😉
„Ich kann mir Sex ohne Küssen nicht wirklich vorstellen. Fehlt da dann nicht etwas?“
Das ist eine typische Falle der patriarchalen Lügenkonstrukte unserer Gesellschaft. Du hast unbewusst entweder die monogame Lüge, die polyamore Lüge (= eine Abwandlung der monogamen Lüge) oder überhaupt die patriarchale Lüge der Rolle „Frau“ im Hintergrund laufen.
Das ist nicht deine Schuld – diese Ideen wurden dir seit du ein Kleinkind warst von allen Seiten vorgelebt, vorgedacht und eingeredet. Es ist aber sehr wohl deine Verantwortung, diese Ideen zu erkennen, sie auszubauen und durch deine gesunden Überlegungen zu ersetzen – wenn du eine sexuell offene Beziehung willst und nicht eh mit dem sexuell geschlossenen Status quo zufrieden bist.
Mach dir klar: Sex zum Spaß an sich ist ein natürliches und völlig gerechtfertigtes Bedürfnis eines jeden Menschen, egal ob Frau, Mann oder weiteres Geschlecht. Du brauchst keine Verliebtheit, keine Liebe, kein Kuscheln und kein Küssen, um irgendein sexuelles Erlebnis mit einem neuen, fremden Menschen genießen zu können. Such dir Menschen, die selbstverständlich nach Konsens fragen und denen deine Lust genauso wichtig ist wie ihre eigene. Lass dich mit ihnen auf die Ebene Lust ohne Nähehandlungen, wie oben beschrieben, ein. Du wirst sehen, du wirst ein lustvolles Erlebnis haben, ganz ohne „Gefühlskälte“.
„Wir sind ein Pärchen und finden das mit den Nähehandlungen Bullshit. Wir wollen auch andere Menschen küssen und mit ihnen kuscheln.“
Das könnt ihr natürlich machen. Seid dann aber nicht über die Konsequenzen überrascht: Nähehandlungen wecken bei allen Beteiligten unbewusst die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Ebene Liebe.
Wenn ihr also Nähehandlungen auch mit anderen Menschen als in eurer Paarbeziehung austauscht, werden kurz darauf seltsame Unsicherheitsgefühle und Eifersucht auftauchen, die sogar dann nicht weggehen, wenn ihr ausführlich darüber geredet habt. Habt ihr mit Bekannten oder Freund_innen regelmäßig Sex, der auch Nähehandlungen enthält, wird eine_r von euch, oder sogar beide nach wenigen Malen romantische Fantasien oder tatsächliche Verliebtheitsgefühle diesen Menschen gegenüber entwickeln.
Macht euch bewusst: Die Vermischung von Handlungen der Ebene Lust und der Ebene Liebe sind der Hauptgrund, warum Menschen in einer sexuell offenen Beziehung nach einiger Zeit zu swingen aufhören, wieder sexuell geschlossen werden, oder sich nach einer Beziehungskrise sogar trennen, weil nichts funktioniert hat.
„Wir sind ein Pärchen und haben angefangen, über unsere sexuellen Fantasien zu reden. Warum kommen auf einmal auch unangenehme Gefühle hoch und wir streiten?“
Wenn der_die Beziehungspartner_in mit jemand Anderem Sex haben möchte, können schnell Versagensängste und Angst um die Beziehung entstehen.
Hier ist es wichtig, die Lügenkonstrukte unserer Gesellschaft anzuschauen.
Die monogame und die polyamore Lüge behaupten:
- Die Ebene Lust und die Ebene Liebe sind dasselbe Bedürfnis.
- Tauchen sexuelle Wünsche auf der Ebene Lust an andere Menschen auf, muss automatisch ein Wunsch nach romantischer Nähe auf der Ebene Liebe mit dabei sein.
Die monogame Lüge ergänzt außerdem:
- Solange die Liebesbeziehung von beiden Beteiligten aus gesund ist, ist es nicht möglich, jemand Anderen sexuell begehrenswert zu finden.
Alle diese Behauptungen sind Teile eines patriarchalen Lügenkonstrukts und damit zu 100% falsch.
Wenn das Gegenüber sich Sex zum Spaß mit jemand Anderem wünscht, heißt das also nicht automatisch, dass er_sie:
- in jemand Anderen verliebt ist
- dich nicht mehr liebt
- dich sexuell gesehen satt hat
Dennoch oder gerade deswegen müsst ihr auch über die negativen Seiten und eure Ängste reden.
Denn wenn eure gemeinsame Sexualität und/oder euer Miteinander in eurer Liebesbeziehung grundsätzlich nicht (mehr) passen, ist eine sexuell offene Beziehung eine Flucht vor den Problemen und beschleunigt höchstwahrscheinlich eine ohnehin schon im Raum stehende Trennung.
Bevor ihr also irgendwelche Fantasien in die Tat umsetzt, besprecht, was ihr zu zweit besser machen könnt.
Auf der Näheskala-Ebene 3:
- Gibt es eine sexuelle Fantasie, die ihr zu zweit gerne erleben würdet – ihr wart aber beide bisher nicht mutig genug, solche Fantasien anzusprechen?
- Habt ihr eine bestimmte sexuelle Fantasie mit einem anderen Menschen, weil genau diese bestimmte Spielart zwischen euch als Beziehung nie, selten oder zu lustlos passiert?
- Nervt euch eine bestimmte Verhaltensweise beim Sex?
Typisch bei Hetero-Sex:- Der Mann ist ständig zu grob, oder „stochert herum“, was die Frau lust- und teilnahmslos werden lässt.
- Die Frau fragt nie nach Sex, und teilt ihre sinnlichen und sexuellen Bedürfnisse kaum mit, was den Mann frustriert und ignorant werden lässt.
Auf der Näheskala-Ebene 4 und 5:
- War es in letzter Zeit fad zwischen euch?
- Seid ihr in einen Alltagstrott geraten, den ihr gerne sprengen würdet?
- Würdet ihr gemeinsame Interessen gerne mehr oder besser ausleben?
- Würdet ihr gerne mehr über die Gedanken und Gefühle eures Gegenübers erfahren?
Auf der Näheskala-Ebene 6:
- Wünscht ihr euch mehr Zeit zu zweit?
- Braucht eine_r oder beide häufiger Zärtlichkeit und Kuscheln?
- Wünscht ihr euch mehr positives Feedback, Zuhören und/oder liebevolle Aufmerksamkeit(en)?
Gibt es auf einer oder mehreren dieser Ebenen ein Problem, könnt ihr mithilfe von Beziehungsarbeit gesunde Lösungen finden.
Wenn ihr total festgefahren seid, und nicht mehr wisst, wie ihr aus gegenseitigen Vorwürfen aussteigt, überlegt euch, ein Paar-Coaching oder eine Eheberatung zu machen. Wenige Sitzungen können oft aussichtslos erscheinende Probleme lösen, und euch Methoden und Strategien für eure gemeinsame Zukunft mitgeben, damit ihr nicht noch einmal in so eine Situation schlittert. Eine ganz schlechte Idee ist allerdings, mit einer psychologischen Beratung bis „Entweder eine Beratung oder Trennung“ zu warten. Das Vertrauen in einer Beziehung ist an diesem Punkt meistens so zerrüttet, dass selbst sehr erfahrene Paartherapeut_innen nur mehr eine Trennung mit dem geringsten gegenseitigen emotionalen Schaden anleiten können.
Wenn es auf Ebene 3, 4, 5 und 6 zwischen euch kein grundsätzliches Problem gibt oder ihr ein bestehendes Problem behoben habt, könnt ihr daran gehen, andere Menschen in eure Sexualität einzuladen und eure sexuellen Fantasien gemeinsam in die Tat umzusetzen.