Ein vielzitiertes Phänomen in der Poly-Szene ist new relationship energy, abgekürzt NRE, – die Energie einer neuen, frischen Verliebtheit.
Diese kennen alle Menschen, die schon einmal so richtig verliebt waren, in ein Gegenüber, das wiederum so richtig zurückverliebt war: Beide Menschen haben eine überdurchschnittlich gute Laune, einen unerschütterlichen Optimismus, und es gehen sogar zuvor anstrengende oder langweilige Tätigkeiten leichter von der Hand – insbesondere, wenn sie dazu beitragen, mit dem geliebten Menschen zusammen zu sein.
Nun glauben viele regelmäßige Besucher_innen der Poly-Szene, dass die Energie einer neuen Verliebtheit einer bestehenden Beziehung nutzt, indem sie zwischen den Beteiligten der Ursprungsbeziehung anstatt Eifersucht die sogenannte Mitfreude hervorbringt, wie in diesem V-Polykül beschrieben:
Mensch A und Mensch B sind eine Paarbeziehung. Mensch B hat Mensch C kennengelernt, und sich verliebt. Nun freut sich Mensch B, dass die eigene Verliebtheit von Mensch C erwidert wird, und Mensch A freut sich, dass es Mensch B gut geht, weil er_sie frisch verliebt ist. Die Mitfreude wiederum schafft eine gute Stimmung zwischen den Beteiligten der chronologisch älteren Beziehung, wodurch Mensch A und Mensch B wieder liebevoller miteinander umgehen.
Wer sich jetzt denkt, dass das nicht stimmen kann, weil es zwischen Mensch A und Mensch B doch Eifersucht und Probleme geben muss, liegt falsch: Der positive Effekt einer neuen Verliebtheit auf eine bestehende Beziehung existiert tatsächlich – ich habe ihn selbst erlebt, viele passende Schilderungen gelesen, und bei anderen Polykülen direkt beobachtet.
Wie ich herausgefunden habe, hat dieser Effekt allerdings eine hässliche Ursache. Als Folge davon hält der Effekt nicht lange an, sondern produziert nach einiger Zeit energiefressende Dynamiken für alle Beteiligten des Polyküls – es gibt also Probleme, allerdings zeitverzögert.
Alle diese Auswirkungen basieren auf einem Energieaustausch:
Bei einer Zweierbeziehung ist die Gesamtanzahl aller beteiligten Menschen gleich groß wie das Paar: Es geht immer um zwei Menschen. Ist die Paarbeziehung energiefressend, sind daher nur zwei Menschen betroffen – und möglicherweise noch eventuell vorhandene Kinder. Inwiefern eine Paarbeziehung energiefressend sein kann, habe ich in Das Energie-Gleichgewicht innerhalb einer Paarbeziehung beschrieben. Weist ein beteiligter Mensch ein energiefressendes Verhalten auf und/oder befindet sich die Paarbeziehung in einem energiefressenden Zustand, hat dies in einem Polykül allerdings eine Auswirkung, die zwischen zwei Menschen gar nicht vorkommt – und welche Paare, die ihre Beziehung öffnen, um Polyamorie zu versuchen, daher meistens nicht mitbedenken.
Jedes Polykül besteht aus mindestens zwei Paarbeziehungen – das Minimum sind also drei Menschen. Der Energieaustausch findet, ähnlich der Osmose in der Chemie, an allen Verbindungspunkten zu weiteren dranhängenden romantischen Verbindungen oder Beziehungen statt. Bei den in Das Poly-Zeitproblem vorgestellten verschiedenen Polykülen ist das überall, wo sich zwei oder mehr Linien berühren.
Wenn sich nun ein Mensch frisch verliebt, und sich das angesprochene Gegenüber zurückverliebt, entsteht eine frische Verliebheit, die Energie produziert. Wenn derselbe Mensch gleichzeitig in einer instabilen, energiefressenden romantischen Verbindung oder Paarbeziehung ist, beeinflusst das über Energieaustausch auch die weitere(n) Paarbeziehung(en) oder Metamour-Verhältnisse negativ, selbst wenn diese für sich alleine sehr gut, also überwiegend energiegebend, laufen (würden). Dieser unbewusste (!) Energiefluss macht sich durch eine eigene Dynamik bemerkbar, für die Maitri, Nemo und ich die Bezeichnung Verschobene Grenzen erfunden haben.
Beispiele:
Mensch A und Mensch B sind miteinander in einer Paarbeziehung. Sie öffnen diese romantisch, allerdings nicht aus einer Primärmotivation für Polyamorie, sondern aus einer Sekundärmotivation. Das ist entscheidend, denn jede Sekundärmotivation ist per Definition ein Versuch, die Erfüllung eines Bedürfnisses über unnötige Umwege zu bekommen, und damit energiefressend.
Angenommen, dieses romantisch offene Paar lernt einen geeigneten dritten Menschen, Mensch C, kennen. Zwischen Mensch B im Ursprungspaar und dem neuen Mensch C funkt es und sie beginnen, liebevolle Aufmerksamkeit(en) zu teilen (etwa „Ich vermisse dich“-Kurznachrichten), sich zu küssen oder zu kuscheln, also romantische Verhaltensweisen zu zeigen. Damit gibt es auf einmal eine zusätzliche Ebene Liebe. Gemäß der Näheskala reichen für eine neue Verbindung auf der Ebene Liebe übrigens genügend romantische Handlungen, bis Verliebtheitsgefühle entstehen. Sex oder eine offizielle Paarbeziehung sind nicht notwendig, verstärken jedoch die Verliebtheit, sobald vorhanden.
Wir haben also das energiefressende Ursprungspaar EF (= Energiefresser) aus Mensch A und Mensch B sowie die neue romantische Verbindung EG (= Energiegeber) aus Mensch B und Mensch C, deren frische Verliebtheit Energie produziert.
Um diese Situation selbst zu erleben, ist übrigens nicht zwingend Polyamorie notwendig. Der Effekt entsteht immer, wenn drei Zutaten zusammenkommen:
- Eine bestehende energiefressende Beziehung (oder etwas, das de facto eine Beziehung ist, welche die Beteiligten aber nicht so nennen – „Es ist kompliziert“),
- eine Verliebtheit in einen neuen Menschen,
- sowie dass der neue Mensch die Gefühle erwidert.
Das kommt häufiger vor, als die meisten Menschen denken, denn wer monogam in einer unglücklichen (= energiefressenden) Beziehung lebt, sich aber in die heimliche Affäre oder den_die Arbeitskolleg_in verliebt, welche sich ebenfalls zurückverlieben, steckt bereits in so einer Situation.
Die entstandene Verbindung / das entstandene V-Polykül sieht dann so aus:
Wie bei kommunizierenden Gefäßen wandert nun die Energie vom energieproduzierenden zum energiefressenden Paar. Das setzt die Dynamik der verschobenen Grenzen in Gang:
Aus der Sicht von Mensch B, der sowohl Teil von EG als auch von EF ist, wirkt auf einmal der Anteil von Mensch A am Energieminus von EF, also Verhaltensweisen, die vorher dauernervig, unfair oder grenzüberschreitend waren, gar nicht mehr so schlimm. Denn Mensch B hat nun mehr als seine eigene Energie zur Verfügung, nämlich die Energie von EG, um das Energieminus in EF auszugleichen. Bewusst äußert sich dies durch weniger Genervtheit, Erschöpfung oder destruktive Konflikte (auch unausgesprochene!) innerhalb EF und dass Mensch B bisher störende Situationen und Verhaltensweisen uminterpretiert – zu „Passt eh“ oder gar „spannende Eigenheit von Mensch A“. Subjektiv gesehen scheint die EF-Beziehung zwischen Mensch A und Mensch B also plötzlich besser zu funktionieren, obwohl alle energiefressenden Dynamiken natürlich unverändert weiterlaufen.
Die andere Seite bleibt davon nicht unbeeinflusst: Die Energie von EG wird schließlich angezapft. Am Anfang kann dies unbemerkt bleiben, da nur die überschüssige Energie abgezogen wird, und EG wenigstens noch die benötigte Energie, damit die Beziehung gut läuft, produzieren kann. Energiefresser sind jedoch üblicherweise Energieparasiten, die alle Energie in Reichweite fressen, um ja nichts an den eigenen Verhaltensweisen ändern zu müssen. Daher beginnt EF bald, sogar die benötigte Energie von EG abzuziehen, wodurch auch in der neuen Verbindung ein Energieminus entsteht. Dies äußert sich in plötzlichen Konflikten zwischen Mensch B und Mensch C, den ursprünglichen Energiegebern. Diese Konflikte wurden von Mensch B unbewusst aus der Beziehung mit Mensch A „verschoben“ und brechen sich nun wie Wellen an der Küste am nächsten geeigneten Menschen ihre Bahn. Die EG-Paarbeziehung leidet in Folge unter Genervtheit, Erschöpfung und destruktiven Konflikten und wird dadurch ebenfalls zu einer instabilen, energiefressenden Paarbeziehung.
Die Themen der plötzlichen Konflikte zwischen der neuesten Verbindung aus Mensch B und Mensch C sind dabei ein guter Hinweis – genau diese Wünsche, Grenzen, und Themen sind höchstwahrscheinlich der Auslöser für die energiefressenden Dynamiken zwischen Mensch A und Mensch B – daher auch die Bezeichnung Verschobene Grenzen.
Leider verläuft dies in der Praxis jedoch nicht so linear, wie hier beschrieben, sondern wird noch von weiteren Faktoren beeinflusst. Die wichtigsten davon sind:
- Die Fähigkeit zu konstruktiven Konflikten: „Setz dich hin. Wir reden das jetzt ordentlich aus!“ vs. „Dir zahl ich’s heim!“
- Unaufgearbeitete negative Erfahrungen mit einer Ex-Beziehung: „Das ist ein anderer Mensch als mein_e Ex. Ich frag lieber mal nach, bevor ich einfach etwas annehme.“ vs. „Genau wie mein_e Ex!! Nur dass ich diesmal nicht die Dumme sein werde…“
Um eine destruktive, energiefressende Dynamik in einer Paarbeziehung loszutreten, die dann das gesamte Polykül überschwappt, reicht es bereits, wenn sich eine Seite destruktiv verhält und sich weigert, die Situation in Ruhe auszudiskutieren. Verständlicherweise wird es noch schwieriger, wenn beide Seiten ein solches Verhalten zeigen.
Wenn die Beteiligten des romantisch offenen Paares / Polyküls, wie in der Poly-Szene üblich, dann auch noch jederzeit zusätzliche romantische Verbindungen anhängen, verkompliziert das die Energieflüsse entsprechend, wodurch eine Negativspirale entsteht, die es für das EF-Paar besonders schwer macht, die verschobenen Grenzen zu erkennen und auszusteigen:
Beispiele:
Das Ursprungspaar besteht aus Mensch A und Mensch B. Mensch B verliebt sich in Mensch C und beginnt daraufhin mit Mensch C eine romantische Verbindung oder neue Beziehung. Mit Mensch A wurde die Organisation dieser neuen Beziehung im Vorfeld entweder gar nicht oder unzureichend besprochen – zwischen Mensch A und Mensch B gibt es also Sekundärmotivationen, die Energie fressen.
Am Anfang kommt Mensch A damit klar, dass Mensch B und Mensch C zusammen sind – schließlich profitiert er_sie von der Energie, die aus dieser Verliebtheit in die eigene Beziehung fließt. Dann aber verbringt Mensch B zunehmend lieber Zeit mit dem neuen Menschen, um die frische Verliebtheit zu genießen. Da die Verbindung energiegebend ist, ist Mensch B mit Mensch C wahrscheinlich auch kreativer und liebevoller als mit Mensch A. Das stößt Mensch A immer mehr sauer auf. Mensch A ist daraufhin eifersüchtig, verletzt und/oder beginnt Angst um die Beziehung mit Mensch B zu haben. Die Folge sind (wieder aufflammende) Konflikte zwischen Mensch A und Mensch B.
Angenommen, Mensch B sieht daraufhin ein, dass zu viel Zeit mit Mensch C die Beziehung zu Mensch A in Gefahr bringt. Daher schränkt Mensch B den Kontakt mit Mensch C ein. Mensch C ist deshalb verletzt und zieht sich zurück. Mensch A und Mensch B sind jetzt wieder zu zweit. Da es aber keine Verliebtheit von außerhalb mehr gibt, deren Energie die energiefressende Beziehung ausbalanciert, brechen die alten Konflikte zwischen Mensch A und Mensch B wieder aus. Dies begünstigt, dass die Dynamik umschlägt:
Mensch A ist von den zurückkehrenden Konflikten frustriert, da er_sie sich aus der Beendigung der Beziehung zwischen Mensch B und Mensch C eine schöne Zeit mit Mensch B erhofft hat – die jetzt nicht eingetroffen ist. Daher investiert Mensch A nun Zeit in Mensch D, verliebt sich, und beginnt bald darauf eine romantische Verbindung oder Beziehung mit Mensch D. Mit Mensch B wurde der Beginn dieser neuen Beziehung im Vorfeld entweder gar nicht oder nur unzureichend besprochen – zwischen Mensch A und Mensch B gibt es also Sekundärmotivationen, die Energie fressen.
Am Anfang kommt Mensch B damit klar, dass Mensch A und Mensch D zusammen sind – schließlich profitiert er_sie von der Energie, die aus dieser Verliebtheit in die eigene Beziehung fließt. Dann aber verbringt Mensch A zunehmend lieber Zeit mit dem neuen Menschen, um die frische Verliebtheit zu genießen, usw.
Der Energie einer frischen Verliebtheit nützt dem Ursprungspaar also tatsächlich – allerdings nur kurz, und mit einem hohen Preis: Falls nicht schon im Vorfeld Grenzüberschreitungen passiert sind („Ich teile dir mit, mit wem ich außer dir noch etwas habe, aber ob du das ok findest, ist mir wurscht!“), können die Beteiligten der bestehenden Beziehung das als Mitfreude bezeichnete positive Gefühl empfinden – allerdings nur für die ersten paar Wochen. Dann kippt das Gleichgewicht, und auch die EG-Beziehung fällt wie die EF-Beziehung ins Energieminus. An diesem Punkt muss natürlich eine neue EG-Beziehung her, die wiederum durch NRE bereitstellt, usw.
Aber auch gegenüber dem Menschen der neuen Verliebtheit oder Beziehung ist diese Entwicklung zutiefst unfair: Anstatt die Energie der Verliebtheit dem jeweiligen Paar zu lassen, wofür sie eigentlich gedacht ist, um dort schöne Erlebnisse herzustellen und notwendige Beziehungsarbeit zu erleichtern, fließt diese in eine oder mehrere fremde, energiefressende Struktur(en) und verschwindet darin wie in einem schwarzen Loch.
Die einzige Möglichkeit, aus der Negativspirale auszusteigen, ist, den Ursprung der Konflikte zwischen Mensch A und Mensch B zu finden und gemeinsam zu lösen. Die EF-Paarbeziehung muss dann so angeschaut werden, als ob sie eine Zweierbeziehung ohne weitere dranhängende Beziehung(en) wäre:
- Wurde die polyamore Erweiterung aus einer Sekundärmotivation eingegangen?
(Siehe dazu das Flowchart: Ist Polyamorie etwas für mich?)
- Trifft einer oder mehrere der Gründe für eine instabile Paarbeziehung zu?
- Wie können wir unsere Situation gemeinsam Schritt für Schritt ändern, sodass unsere Beziehung stabil und energiegebend wird?
Wenn hingegen über keines dieser Themen eine konstruktive Kommunikation (mehr) möglich ist oder eine Liebesbeziehung von vorneherein nicht die passende Verbindung war, bleibt als einzige Lösung, dass sich Mensch A und B trennen.
Unbearbeitet bewegt sich das gesamte Beziehungsgeflecht im Laufe von ein paar Monaten über den miauenden Hund und/oder den seriell-parallelen Durchlauferhitzer auf einen emotionalen Atompilz zu, in dem es schlussendlich hochgeht.